Mülheim/Duisburg. Vor dem Duisburger Landgericht können zwei Anti-AfD-Aktivisten Vorstrafen abwenden. Schwere Vorwürfe machen sie einem Mülheimer Autofahrer (79).
Mehr als zwei Jahre nach der großen Anti-AfD-Kundgebung in Mülheim wurde ein Nebenschauplatz erneut ausgeleuchtet: Die Sitzblockade vor dem Stadthallenparkplatz beschäftigte eine Strafkammer des Duisburger Landgerichtes. Zwei Aktivisten wehrten sich in zweiter Instanz gegen ein Urteil des Mülheimer Amtsgerichtes und waren halbwegs erfolgreich.
Im Mittelpunkt steht der Zwist zwischen Demonstranten und einem 79-jährigen Mülheimer, der versucht hatte, mit seinem schwarzen Audi die Absperrung aus menschlichen Körpern zu durchdringen. Die Aktivisten werfen ihm vor, absichtlich in die Menge gefahren zu sein. Er selber behauptet, sein Fuß sei von der Kupplung gerutscht. Die Situation eskalierte und war Anfang Juli bereits Gegenstand eines Strafverfahrens am Mülheimer Amtsgericht.
Junge Männer wehren sich gegen Urteil des Mülheimer Amtsgerichtes
Dort war ein 29-jähriger Mülheimer wegen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot verurteilt worden: Er trug bei der Sitzblockade eine Kapuze und einen hochgezogenen Schal. Ein 27-jähriger Duisburger wurde schuldig gesprochen wegen Beleidigung – er hatte den Autofahrer angeschrien: „Du bist in die Leute reingefahren, du Vollidiot!“ Beide Männer sollten Geldstrafen zahlen, beide gingen in die Berufung.
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Im Vorfeld des Verfahrens am Landgericht hatte das Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus Essen“, dem einer der Beschuldigten angehört, einen Appell veröffentlicht: Man solle den Prozess im Gerichtssaal „kritisch begleiten“. Gefolgt sind diesem Aufruf aber nur zwei Personen – der Vater und die Schwester des Mülheimers.
Aktivist bleibt dabei: „Autofahrer fuhr absichtlich in die Menschenmenge“
Der 29-Jährige selber ließ sich aus beruflichen Gründen entschuldigen. Er ist Elektromeister bei der Deutschen Bahn, befindet sich auf einer Fortbildung und wurde durch seinen Anwalt vertreten. Verteidigungslinie: Nur aus „Notwehr“ habe er sein Gesicht verhüllt, um nicht von einem Reporterteam frontal gefilmt zu werden.
Der 27-jährige Duisburger nahm hingegen noch einmal persönlich zu den Vorkommnissen auf dem Parkplatz Stellung. Er sagte: „Ich bleibe dabei. Der Autofahrer ist mit Absicht in die Menschenmenge gefahren.“
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Der Audi-Fahrer sagte vor dem Landgericht erneut als Zeuge aus, schilderte die aus seiner Sicht „bedrohliche Situation“, berichtete von Tritten gegen seinen Wagen, harten Beschimpfungen, einem Schaden von rund 2600 Euro für Reparatur der Blechschäden und Anwaltskosten. Nur dem anwesenden Kamerateam habe er zu verdanken, dass es nicht zu weiteren Ausschreitungen kam, so seine These.
Blaulicht-Reporter beschimpften Demonstranten als „Penner“ und „Idiot“
Das Team um Blaulichtreporter Stephan Witte filmte vor Ort, trat aber seinerseits krawallig in Erscheinung und heizte die Situation nach Kräften an. Auf einem Video, das bei der Verhandlung im Duisburger Landgericht erneut in Augenschein genommen wurde, ist deutlich zu vernehmen, wie die Reporter Aktivisten beschimpfen: „Penner“, „Nimm die Vermummung runter, du Idiot“, „Zeig dich, du Feigling!“ Tatsächlich hatte schon das Amtsgericht in seinem Urteil angemerkt, dass die Reporter „provokant“ aufgetreten seien.
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Gleichwohl hielt der Vorsitzende Richter am Landgericht, Helmut Bracun, die Bezeichnung „Vollidiot“ für beleidigend: „Das Wort war nicht nötig. Die Situation hatte sich doch schon beruhigt.“ Auch den Notwehraspekt bei der Vermummung des 29-jährigen Mülheimers ließ er so nicht gelten. Doch er baute Brücken, um die Konsequenzen für die jungen Männer zu mildern.
Anwältin wirbt für Einstellung des Verfahrens: „Führungszeugnis ist gerade sauber“
Beiden Verteidigern war sehr daran gelegen, das Ganze ohne Urteilsspruch beizulegen, damit ihre Mandanten nicht vorbestraft sind. Im Fall des 27-jährigen Duisburgers standen schon zwei Geldstrafen im Register: wegen Sachbeschädigung beziehungsweise Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. „Die letzte Vorstrafe datiert aus 2018“, so seine Anwältin, „das Führungszeugnis ist gerade wieder sauber.“
Aus persönlichen Gründen sei dies für ihren Mandanten sehr wichtig: Im Sommer habe er ein Einser-Abitur abgelegt und ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes erhalten. Er pflege momentan seine schwer erkrankte Freundin, wolle aber zeitnah ein Medizinstudium aufnehmen: „Wenn er jetzt eine Geldstrafe bekommt, wäre das schwierig für seine berufliche Zukunft.“
Das geplante Medizinstudium soll nicht verbaut werden
Richter Helmut Bracun sah dies ein: „Das in Aussicht genommene Medizinstudium soll nicht verbaut werden.“ Auch die Staatsanwältin zeigte sich kooperativ. Letztlich wurde das Verfahren gegen beide Beschuldigte eingestellt. Der Mülheimer muss 800 Euro zahlen, der Duisburger 450 Euro, jeweils an gemeinnützige Organisationen.
Mülheim stellte sich quer
Etwa 2500 bis 3000 Menschen protestierten am 29. Oktober 2019 vor der Mülheimer Stadthalle. Aufreger war eine AfD-Veranstaltung mit dem Titel „Bürgerdialog“ und Hauptrednerin Alice Weidel, Vorsitzende der AfD-Fraktion im Bundestag.
Das eigens zu diesem Zweck gegründete Bündnis „Mülheim stellt sich quer“ hatte die Demo auf die Beine gestellt. Getragen wurde es von unterschiedlichen politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Organisationen.
Die Anti-AfD-Kundgebung verlief friedlich. Eine heftige Auseinandersetzung gab es nur am Stadthallenparkplatz, wo ein Autofahrer versuchte, die Sitzblockade einiger Aktivistinnen und Aktivisten zu durchbrechen.
Eine zentrale Forderung der Aktivisten erfüllte sich aber nicht: Sie finden, der Autofahrer müsse juristisch belangt werden. In einer Stellungnahme des Bündnisses „Aufstehen gegen Rassismus Essen“ wird das Urteil des Landgerichtes daher nur als „Teilerfolg“ bewertet. „Wir sind nach wie vor schockiert und wütend, dass gegen den Autofahrer nicht ermittelt wurde“, heißt es dort.
Mehrere Demo-Teilnehmer sagen sogar, die Polizei habe sich auf dem Stadthallenparkplatz geweigert, Anzeigen gegen den 79-Jährigen aufzunehmen. Dieser Vorwurf wird allerdings kaum noch zu klären sein. Auch die Beleidigungen, die die Kameraleute von sich gegeben haben, bleiben ohne Konsequenzen.