Mülheim. Mehr Gleichberechtigung im Verkehr fordert das Land NRW im neuen Nahmobilitätsgesetz. Wo Mülheim steht und wo es künftig ansetzen müsste.
Radschnellweg, Fahrradstraßen, mehr Tempo 30, neuer Arbeitskreis „Fahrrad“: Verfolgt man die Beschlüsse und Schlagzeilen der vergangenen Monate, scheint das Fahrrad in Mülheim im Aufschwung zu sein. Sogar als „fahrradlastig“ bemängelt FDP-Fraktionssprecher Peter Beitz die aktuelle Verkehrspolitik. Dabei spricht die Mülheimer Realität eine andere Sprache – die Stadt hat einiges aufzuholen.
Aus den Alltagserfahrungen lässt sich das ablesen, aber auch statistisch. So gibt der so genannte Modal Split Auskunft über die Situation des Verkehrs in einer Stadt. Er zeigt, welchen Anteil das Auto, der ÖPNV, das Fahrrad und Fußgänger in der Mobilität einer Stadt einnehmen. Wenn man so will, gibt er Aufschluss darüber, wie gleichberechtigt die Verkehrsteilnehmer in einer Stadt sind, welche Formen der Mobilität bevorzugt werden. Und welche nicht.
So nutzen die Mülheimer die Verkehrsmittel: Das Auto liegt deutlich vorn
Zum letzten Mal hat die Stadt vor zwei Jahren – 2019 und damit vor der Corona-Pandemie und ihren Auswirkungen etwa auf den Nahverkehr – die Mülheimer Haushalte zur Mobilität befragt. Herausgekommen ist: 19 Prozent nutzen den Öffentlichen Nahverkehr, 16 Prozent entfällt auf die Fußgänger, ganz vorne steht der „motorisierte Individualverkehr“ und somit vor allem das Auto mit 52 Prozent. Gerade einmal vier (4) Prozent macht der Radverkehr aus.
So spielt das Auto bei den 30- bis 65-Jährigen mit rund 60 Prozent die größte Rolle. Das Fahrrad nutzen 3,9 bis 4,7 Prozent dieser Altersgruppe. Auch bis 75 Jahre bleibt das Auto das Mittel der Mobilität. Nur danach verliert es an den Nah- und Fußverkehr.
37 Prozent aller Fahrten führen zum Arbeits- und Ausbildungsplatz oder sind dienstlich motiviert – nur die Hälfte davon müssen dabei Orte außerhalb von Mülheim erreichen. 17 Prozent aller Fahrten dienen dem Einkaufen, 18 jeweils der Freizeit oder „privaten Erledigungen“.
Bemerkenswert dabei ist: Viele Wege – bis zu 45 Prozent – werden im Stadtteil zurückgelegt, 65 Prozent aller Wege bleiben laut Befragung noch innerhalb der Stadtgrenzen. Durchschnittlich legt der Mülheimer bei einer Fahrt 9,6 Kilometer zurück, knapp die Hälfte aller Wege sind aber kürzer als 5 Kilometer.
Zu faul zum Laufen? Schon ab einem Kilometer Strecke steigen viele Mülheimer ins Auto
Und dennoch wird auch für diese Wege das Auto bevorzugt genutzt: 66 Prozent fahren mit dem Pkw zur Arbeit, 50 Prozent kaufen mit dem Auto ein, 42 % nehmen das Auto auch in der Freizeit. Schon ab Strecken über einem Kilometer greift der Mülheimer offenbar überwiegend schon gerne zum Pkw (39 Prozent), ab 3 Kilometer liegt der Autoanteil schon bei 54 Prozent.
Im Vergleich: Das Fahrrad spielt bei der Fahrt zur Arbeit (4,8 Prozent), in der Freizeit (4,3 Prozent) oder beim Einkauf (3,2 Prozent) unter allen vier Verkehrsmodalitäten die geringste Rolle. Kann man also das Fahrrad als Verkehrsmittel künftig vernachlässigen?
So einfach ist es nicht. Denn was diese Befragung des Nutzerverhaltens nicht darstellt: die Gründe, warum das jeweilige Verkehrsmittel gewählt wird – oder eben nicht. Und damit gleichzeitig das größte zu hebende Potenzial in der Stadt. Zum Vergleich: In der Nachbarstadt Essen beträgt der Fahrradanteil am Gesamtverkehr schon sieben (7) Prozent – fast doppelt so viel. In Düsseldorf steigen immerhin 13 Prozent aufs Rad. Sind diese Städte fahrradfreundlicher? Und warum?
Warum 25 Prozent Fahrradanteil gut für das Stadtklima wäre
Lohnen würde sich der Umstieg aufs Fahrrad für die Klimabilanz einer Stadt: Rad- und Fußverkehr sparen laut Umweltbundesamt rund 140 g Treibhausgas-Emissionen pro Personenkilometer gegenüber dem Pkw ein. Und auf die kurze Distanz unter fünf Kilometer ist das Rad oft schneller als der Pkw.
Mülheim: Mehr Anstrengungen erforderlich
Die Bedeutung des gleichberechtigten Modal Split für das innerstädtische Klima hat die Verwaltung erkannt: „Der Rat der Stadt Mülheim hat durch eine Vielzahl von Rahmenbeschlüssen und Grundsatzpapieren der Verwaltung den eindeutigen Auftrag erteilt, alles Notwendige zu tun, um dem negativen Trend der klimatischen Entwicklungen entgegen zu wirken“, sagt Umweltdezernent Peter Vermeulen.
So würden auch im Bereich Verkehrssektor geänderte Prioritäten in Richtung Klimaschutz verfolgt. Die Prioritäten liegen mehr in Richtung Förderung des ÖPNV und Rad- und Fußverkehr (Ausbau Radwegenetz, Steigerung der Aufenthaltsqualität für den Fußgänger), auch wenn solche Maßnahmen zu Lasten der Leistungsfähigkeit oder des Parkraumangebotes für die Autofahrer gehen.
Langfristig wird eine gleiche Aufteilung im Modal Split angestrebt. Vor allem beim Radverkehr sind daher verstärkte Anstrengungen erforderlich.
Die Messlatte für den Modal Split jedenfalls hat NRW mit dem Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz zum Jahresbeginn inzwischen deutlich höher gelegt: Jeweils 25 Prozent sollen künftig die vier Verkehrsarten in einer Stadt einnehmen. Aktuell schaffen das nur wenige Städte, Münster springt etwa mit rund 39 Prozent sogar höher als der Autoanteil (rund 29 Prozent).
Wie könnte Mülheim das angehen? Der letzte Verkehrsentwicklungsplan der Stadt liegt mehr als zehn Jahre zurück und wurde 2009 erstellt. Gültig sollte dieser Rahmenplan zur Verkehrsinfrastruktur nur bis 2015 sein. Doch fortgeschrieben oder gar erneuert wurde er nie. In den letzten Jahren haben sich „Veränderungen in den Bereichen Verkehrsmittelwahl, Klimaschutz, kommunale Haushaltssituation und nicht zuletzt auch durch Corona ergeben, welche in Ihren Auswirkungen zur Zeit noch nicht richtungsweisend abgeschätzt werden konnten“, gibt die Stadt auf Anfrage Auskunft.
Corona hat die Analysen in Mülheim offenbar kräftig durcheinander gebracht. Zur Zeit werde beobachtet, ob sich hierdurch nachhaltige, langfristige Veränderungen des Modal Split etwa durch Homeoffice und Videokonferenzen, bei der Einkaufsmobilität durch Internethandel, beim ÖPNV ergeben. Vor diesem Hintergrund ist die Weiterbearbeitung des Mobilitätskonzepts zunächst zurückgestellt worden, sagt die Stadt, „sie bleibt aber Aufgabe, die es zu bearbeiten gilt“.