Mülheim. In Mülheim sind die Inzidenzen vor allem in Styrum und Eppinghofen hoch. Krisenstabsleiter Steinfort sieht das Problem in Parallelgesellschaften.
114 Neuinfektionen hat das Mülheimer Gesundheitsamt zu Mittwoch gemeldet – so viele innerhalb von 24 Stunden wie noch an keinem anderen Tag in diesem Jahr. Besonders breitet sich das Coronavirus in Styrum und Eppinghofen aus, die Sieben-Tage-Inzidenzen lagen dort zuletzt bei 475,4 beziehungsweise 264,8. Stadtdirektor und Krisenstabsleiter Frank Steinfort benennt das Problem: „eine Bevölkerung, die wir nicht mit unserer Kommunikation erreichen.“
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Mülheimer Krisenstabsleiter: „Wir haben kriminelle Clans, Familien, die nicht mit uns kommunizieren“
Mehr als ein Viertel der Styrumer und Eppinghofener Bevölkerung sind Ausländer, knapp 39 Prozent haben einen Migrationshintergrund. „Wir erleben dort Desinteresse, Sprach- und Kulturprobleme sowie Bildungsschwäche“, fasst Frank Steinfort die Schwierigkeiten zusammen, die Pandemie in diesen Stadtteilen in den Griff zu bekommen.
Das Problem, dass sich Teile der Bevölkerung nicht an die Regeln halten, sei Folge von Versäumnissen der Integrationspolitik in den vergangenen zwei Jahrzehnten. „Wir haben eine Parallelkultur entstehen lassen, in der legale Arbeit nicht möglich ist.“ Diese Parallelkultur erreiche die Stadt nicht – und Corona werfe das Scheinwerferlicht auf dieses Problem.
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„Wir haben kriminelle Clans, Familien, die nicht mit uns kommunizieren. Wir stehen vor einer Wand. Es besteht kein Interesse an der Gemeinschaft“, findet Steinfort deutliche Worte. „Wer das nicht sagt, verschließt die Augen vor der Realität.“
Steinfort: Ramadan trägt zum Infektionsgeschehen in Mülheim bei
Die Stadt lässt nun über die Post Flugblätter an über 25.000 Haushalte in den Bezirken Styrum, Altstadt I (Innenstadt) und Altstadt II (Eppinghofen) zustellen. Zudem will der Krisenstabsleiter Gespräche mit den Imamen der Mülheimer Moscheen führen, will über sie Menschen erreichen, auf die die Stadt bislang keinen Zugriff hat. Denn auch der Ramadan trage zum Infektionsgeschehen bei: „Eine große Bevölkerungsgruppe trifft sich jeden Abend zum Fastenbrechen“, sagt Steinfort.
Dass der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an den Corona-Infizierten hoch ist, bestätigt auch Prof. Heinz-Jochen Gassel, ärztlicher Direktor am Evangelischen Krankenhaus in Mülheim. Rund 50 Prozent der Corona-Patienten seien Migranten – deutlich mehr, als ihr eigentlicher Anteil an der Bevölkerung ist.
Vorsitzender des Integrationsrates: Mehr Ansteckungsgefahr in größeren Familien
Hasan Tuncer, Vorsitzender des Integrationsrates, sieht dafür drei Hauptgründe: Zum einen arbeiteten Menschen mit Migrationshintergrund häufiger in systemrelevanten Dienstleistungsberufen: an Supermarktkassen, als Paketboten, in Imbissen, als Spediteure, in der Pflege. „Sie setzen sich viel mehr der Gefahr aus, sich anzustecken, als Menschen, die aus dem Homeoffice arbeiten“, so Tuncer.
Zum anderen seien die Familien oft deutlich größer und damit ebenso die Ansteckungsgefahr. Wenn ein Familienmitglied infiziert ist, steckt es mehr Menschen an als in Kleinfamilien. Zudem lebten viele in Mehrfamilienhäusern mit vielen Parteien, kämen so ohnehin mit mehr Menschen in Kontakt.
„Gemeinsam daran arbeiten, aus der Misere rauszukommen“
Ein „No go“ seien die, die sich nicht an Regeln halten, doch dass viele Migranten nicht erreicht würden, sei auch ein Fehler der Stadt. „Nach einem Jahr Pandemie fällt auf, dass man diese Menschen ansprechen soll?“ Viel früher hätte man die fehlgeschlagene Integrationspolitik in den Blick nehmen müssen.
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Der Integrationsrat habe dem Krisenstab Tipps an die Hand gegeben: mehrsprachige Flyer, großflächige Plakate mit Bildern – denn Bilder erreichen die Menschen oft besser als Sprache, zumal die Vielfalt der Sprachen groß ist –, Videos über soziale Netzwerke. „Es muss unser Ziel sein, nicht noch tiefer in die Misere zu geraten, sondern gemeinsam daran zu arbeiten, dort rauszukommen.“
Mülheimer Krisenstabsleiter: Corona-Situation ist gravierender als im Winter
Aktuell ist die Prognose allerdings eher schlecht. Während sich die Inzidenzzahlen auf einem ähnlichen Niveau wie im Dezember bewegen – Mülheim liegt am Mittwoch bei einem Sieben-Tage-Wert von 228 –, erklärt Frank Steinfort, warum die Situation aber deutlich gravierender ist als im Winter. Man müsse mit einrechnen, dass mittlerweile rund 23 Prozent der Mülheimer Bevölkerung mindestens die Erstimpfung erhalten hat, zudem haben über vier Prozent der Bürgerinnen und Bürger bereits eine Corona-Infektion durchgemacht.
Bei diesen beiden Gruppen – den Geimpften und den Geheilten –, die zusammen gut ein Viertel der Bevölkerung ausmachen, ist die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung gering. Somit müsse man die Inzidenz eigentlich nicht auf 100.000 Einwohner, sondern nur auf 75.000 Einwohner rechnen. Kalkuliert man den Wert auf diese Weise, läge die Inzidenz bei etwa 280.
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Stadt Mülheim plant keine weitere Ausgangssperre
Dass die Werte in den kommenden Tagen sinken, ist angesichts der aktuell gemeldeten Infektionszahlen nicht absehbar. „Wir haben ein höheres Plateau erreicht“, sagt Frank Steinfort. Weil derzeit die Inzidenz rund um 200 pendelt und nicht, wie vergangene Woche, stark in die Höhe geschnellt war, werde die Stadt keine weitere Ausgangssperre verhängen. „Letztes Wochenende mussten wir einen Notfall lösen“, sagt Steinfort.
Nun fehle der Stadt die Befugnis, ein Wochenende würde nicht reichen, um wirksam gegen die Infektionen anzugehen. „Wir warten, bis die Entscheidung des Bundestags umgesetzt wird.“ Der hatte am Mittwoch unter anderem beschlossen, dass ab 22 Uhr Ausgangssperren greifen, wenn die Inzidenz über 100 liegt. Am Donnerstag tagt dazu der Bundesrat.