Mülheim. Die Situation im Mülheimer EKM spitzt sich zu. Die Patienten werden jünger – und länger behandelt. Der ärztliche Direktor befürchtet Überfüllung.

Die Inzidenz-Zahlen in Mülheim steigen massiv, innerhalb von zwei Tagen wurden 168 Neuinfektionen gemeldet. Schon jetzt spitzt sich die Situation in den Krankenhäusern zu – und droht sich in den nächsten Wochen zu verschlechtern. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Heinz-Jochen Gassel, Chefarzt und ärztlicher Direktor am Evangelischen Krankenhaus in Mülheim (EKM).

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Die Zahl der Neuinfektionen steigt stark, die Universitätsklinik in Essen nähert sich dem Höchstwert der Corona-Patienten. Wie ist die Lage am Evangelischen Krankenhaus in Mülheim?

Aktuell behandeln wir 18 Covid-Patienten, davon drei auf der Intensivstation. Hinzu kommen 14 Verdachtsfälle, die derzeit in der Abklärung sind und bei denen ein PCR-Test noch aussteht. Das ist gut ein Drittel von der Spitze, die wir bislang erreicht haben. Aber die Situation wird zahlenmäßig schlimmer werden.

Mülheimer EKM: Durchschnittsalter der Corona-Patienten um 30 Jahre gesunken

Zuletzt hatte sich die Lage im Dezember zugespitzt. Wie unterscheidet sich die aktuelle Situation von damals?

Die Altersverteilung der Corona-Erkrankten hat sich nahezu konträr geändert. Aktuell sind vor allem die 20 bis 60-Jährigen stark betroffen, die meisten Älteren sind durch Impfungen geschützt. Das bedeutet auch eine komplette Veränderung der Altersstruktur unserer Patienten; das Durchschnittsalter ist um 30 Jahre gesunken. Von den drei Patienten auf der Intensivstation ist der jüngste 25 Jahre, der nächste 37 Jahre alt.

Prof. Dr.. Heinz-Jochen Gassel, ist ärztlicher Direktor am EKM. Er befürchtet eine Überfüllung der Krankenhäuser.
Prof. Dr.. Heinz-Jochen Gassel, ist ärztlicher Direktor am EKM. Er befürchtet eine Überfüllung der Krankenhäuser. © Martin Möller / Funke Foto Services | Martin Möller

Welche Auswirkungen hat die Verjüngung der Patienten?

Die Situation bereitet mir Kopfzerbrechen, denn die Jüngeren liegen deutlich länger, sie haben mehr Reserven, sie sterben nicht so schnell. Sie können sich das wie eine Badewanne vorstellen: Irgendwann ist sie voll und weil die jüngeren Patienten länger behandelt werden, ist der Abfluss nicht gesichert. Das kann dazu führen, dass wir andere Patienten nicht adäquat versorgen können.

Auch für uns ist es sehr belastend, junge Menschen so leiden zu sehen. Besonders nimmt uns die Tatenlosigkeit mit, mit der wir zusehen müssen.

„Wir müssen eine Überfüllung der Krankenhäuser befürchten“

Etwa 17 Prozent der Intensivpatienten sind Corona-Patienten. Das klingt wenig.

Die Fälle, die nun im Krankenhaus behandelt werden, sind die, die sich schon vor einigen Wochen angesteckt haben – und da waren die Inzidenzen noch niedrig. Wir haben einen zeitlichen Versatz von zwei bis vier Wochen. Angesichts der aktuell hohen Infektionszahlen müssen wir mit dem Blick nach vorne eine Überfüllung befürchten, wenn wir jetzt nicht gegensteuern. Bislang ist Mülheim immer von der Komplettüberfüllung verschont geblieben, weil uns andere Städte Patienten abgenommen haben. Aber Köln ist voll, Essen ist fast voll.

Inwieweit ist durch die Corona-Situation die Versorgung anderer Patienten gefährdet?

Wir müssen das Maß halten zwischen Covid-Patienten und akuten Fällen. Wir prüfen täglich, welche Reserven wir haben. Das Problem sind nicht die Betten oder die Maschinen, es ist das Personal. Wir müssen das Personal aus anderen Bereichen abziehen. Das kann man schaffen, aber die Regelversorgung muss heruntergefahren werden.

Sorge bereitet mir, dass viele Menschen erst zu spät zum Arzt gehen. 80 Prozent der Blinddarmentzündungen behandeln wir in einem fortgeschrittenen Stadium. Zahlreiche Patienten kommen in einem Zustand, der zwar noch zu retten ist, aber schwieriger zu behandeln.

Nach über einem Jahr Pandemie ist das Personal erschöpft, viele Krankenhäuser beklagen Kündigungen. Wie ist die Situation am EKM?

Ja, wir sind erschöpft von der Pandemie und der Belastung. Wir wünschen uns Urlaub, den wir nicht machen können. Aber die Motivation ist ungebrochen hoch. Die Kollegen fühlen sich sicher bei uns, wir haben sogar eher Personalzulauf.

Positiver als im Dezember ist, dass fast das gesamte Personal geimpft ist. Bei den Ärzten erreichen wir eine Quote von fast 100 Prozent, beim Pflegepersonal von über 80 Prozent. Wir hatten keinen einzigen Krankheitsfall eines doppelt Geimpften Mitarbeiters. Wir fürchten die Personalausfälle nicht mehr.

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„Wir kommen mit Impfungen alleine nicht über die Welle“

Mülheim hat nun eine Ausgangssperre beschlossen. Ist das die richtige Maßnahme?

Die Zahlen in Bayern haben gezeigt, dass die Ausgangssperre als eine von vielen Maßnahmen hilft. Alleine bringt sie nichts, vor allem nicht, wenn sie nicht kontrolliert wird.

Wichtig sind bundeseinheitliche, klare und verständliche Regeln, weil die Leute sonst nicht mehr folgen werden. Wir müssen aufhören mit dem Klein-Klein. Wichtiger als alles bis ins Detail zu planen, ist, dass wir es schneller machen. Damit wir eine Chance haben, die Welle zu brechen.

Wir kommen mit Impfungen alleine nicht vor die Welle. Bis wir eine Herdenimmunität erreicht haben, dauert es zu lange. Wir schaffen es nur, vor die Welle zu kommen, wenn wir unsere Kontakte so einschränken, dass wir die Mutationen und die Infektionen brechen.