Mülheim. Der neue Vorstand des Integrationsrates will die Geschicke Mülheims mitbestimmen. Dafür müssen sich auch die Politik und Verwaltung bewegen.
Sie wollen nicht nur Sprachrohr für Migrantenvereine sein, sondern endlich tiefer einsteigen in die Politik, die Geschicke der Stadt mitentscheiden. „Wir wollen etwas bewegen in sozialen Fragen, der Bildung, der Mobilität, der Demokratie – das alles betrifft uns genauso wie alle Mülheimer Bürger“, fordern Gilberte Raymonde Driesen, Medlina Al-Ashouri und Hasan Tuncer. An Motivation und Ideen hakt es beim neuen Vorstand des Integrationsrats nicht, wohl aber beim altbekannten Problem: dem Amtsschimmel.
Und der ist bekanntlich träge: So hatten sich verschiedene Gremien bereits gebildet, bevor der Rat der Stadt den Integrationsrat einberufen und bestätigt hatte. Somit gingen bereits Themen ins Land, bei denen der neue Integrationsrat gerne mitgeredet hätte. Tuncer, der dem Integrationsrat vorsitzt und die Politik in der vergangenen Ratsperiode als Stadtverordneter erlebte, sieht Fehler im System: „Man muss sich noch fragen, wie ernst die Ratspolitik den Integrationsrat wirklich nimmt.“
Der Integrationsrat hätte in der Theorie ein ähnliches Gewicht wie der Rat und seine Gremien
Die Neulinge auf der politischen Bühne wollen keine Statisten sein, sondern gehört werden, mitbestimmen. Die Gemeindeordnung NRW, Paragraf 27 gibt ihnen das Recht: „Der Integrationsrat kann sich darüber hinaus mit allen Angelegenheiten der Gemeinde befassen“, heißt es dort. Sogar Rederecht in den Ausschüssen können die Mitglieder verlangen. „Der Integrationsrat soll zu Fragen, die ihm vom Rat, einem Ausschuss, einer Bezirksvertretung oder vom Bürgermeister vorgelegt werden, Stellung nehmen.“
Und schließlich räumt die Stadt selbst dem Integrationsrat ein, „weitestgehend den Status und das politische Gewicht eines Ratsausschusses“ zu haben und „Teil der Beratungsfolge zwischen Ausschüssen und Rat der Stadt“ zu sein. An vollmundigen Lobeshymnen fehlt es also nicht.
In der Praxis dagegen, ist der Integrationsrat stereotyp eingeschränkt
Und doch liegt hier der Hase im Pfeffer: Welche Fragen und welche Anträge betrifft das? Wer befindet darüber? Offensichtlich wird beim Blick in die Tagesordnungen des Integrationsrates, dass Ausschüsse und Rat diesen nur selten in ihren Beratungsfolgen einbinden. Und wenn, dann oft stereotyp eingeschränkt auf vermeintliche „Integrationsthemen“ wie Betreuungsangebote in Kitas, Themen der Ausländerbehörde, interreligiöse und -kulturelle „Dialoge“ oder um Preise zu verleihen. Viel zu eng gedacht – so lautet die Kritik der drei Vorsitzenden und die Forderung, den Integrationsrat stärker an der Mülheimer Politik teilhaben zu lassen.
Neu ist die Kritik der Beiräte an der Stadtpolitik nicht. Auch der Jugendstadtrat hatte mangelnde Teilhabe und Entscheidungskompetenzen in der Vergangenheit angemerkt. Nicht zuletzt drückte sich das in beiden Fällen so aus, dass Mitglieder des Integrations- und Jugendstadtrates den Sitzungen fern blieben. Baustelle Demokratie.
Baustelle Demokratie: Vielen Mitgliedern fehlt das politische Fachwissen
„Das Problem ist: Einige Mitglieder sind Anfänger und wissen oft nicht, wie Politik und Verwaltung in Mülheim grundsätzlich funktionieren, wie man Anträge stellt, wie man eine Rede hält“, zählt die Gymnasiallehrerin aus dem Senegal, Gilberte Raymonde Driesen auf. Als Mitglied der Grünen hat sie immerhin einen parteipolitischen Vorsprung. Auch Hasan Tuncer bringt als ehemaliger Ratsherr (Bündnis für Bildung) dafür Rüstzeug mit. Beide fordern für ihre Kollegen, dass diese von der Verwaltung geschult werden müssen, damit sie verstehen, wie sie sich einbringen können.
Beispiel: der anstehende Beschluss zum Etat. Darin sind auch Mittel für den Integrationsrat vorgesehen, über die in der Sitzung gesprochen werden soll. Aber ob diese Mittel ausreichend sind, wie man überhaupt einen Stadthaushalt lesen muss, um ihn kritisch in den Ausgaben hinterfragen zu können, darin haben sie keine Erfahrung und keine Schulung bekommen. „Wir wollen aber kein Gremium sein, das einfach nur abnickt“, sagt Driesen bestimmt.
"Wir wollen kein Gremium sein, das nur abnickt"
Über die Fragen der Integration muss offenbar ganz neu nachgedacht werden – auch von der Seite der Politik. Medlina Al-Ashouri ist dazu bereit, ihren Teil zu leisten: „Integration ist keine Einbahnstraße. Wir wollen uns einbringen.“, sagt die 24-jährige Medizinstudentin besonnen, die sich seit 2015 in der Flüchtlingshilfe engagiert hat, ein Tanztheater gegen Rassismus auf die Beine stellte. Ihr ist dabei klar geworden: „Es gibt eine politische Lücke für Zugewanderte, weil die Strukturen zur Beteiligung nicht da sind. Wir müssen deshalb erst einmal etwas aufbauen, bevor wir etwas umsetzen können.“
Der neue Integrationsrat tagt am kommenden Freitag, 29.1., ab 16 Uhr im Rathaus, Sitzungsraum B.115.
INFO
Am 13. September 2020 wurde parallel zur Kommunal- und OB-Wahl auch der Integrationsrat in Mülheim neu gewählt. Dabei ist über 17 Sitze entschieden worden. Acht davon gehen an die politischen Parteien.
Die Wahlbeteiligung – ohnehin seit vielen Jahren beklagenswert – blieb auch diesmal weit hinter den Erwartungen zurück: Von 30.553 wahlberechtigten Migranten haben nur 3636 ihre Kreuzchen gesetzt, eine Wahlbeteiligung von gerade einmal 11,9 Prozent. Gründe sehen die Vorsitzenden unter anderem in der mangelnden Einbindung und Informationspolitik.
Jeweils drei Mandate haben „Frauen der Welt“ und „Mülheim für Alle“ erhalten. Jeweils zwei Sitze bekamen die Arabische Liste und die Grün-Bunte-Liste, zu der Gilberte Raymonde Driesen gehört. Jeweils einen Sitz erhalten die Listen „Mülheim Miteinander“ (Hasan Tuncer), „Mülheim United“, „Mülheimer Interkultur Bündnis“ und „Gemeinsam Stark“ (Medlina Al-Ashouri). Außerdem sind Mustafa Ali aus Syrien und Dariusz Florecki aus Polen als Einzelbewerber vertreten.