Mülheim. Die Corona-Angst vieler Patienten richtet großes Unheil an, meint der Mülheimer Chefarzt Heinz-Jochen Gassel. Er wirbt für normalen OP-Betrieb.
Das Evangelische Krankenhaus Mülheim (EKM) arbeitet seit dieser Woche wieder im Vollbetrieb. Aber viele Patienten beißen aus Angst vor einer Corona-Infektion lieber die Zähne zusammen und bleiben zu Hause. Prof. Heinz-Jochen Gassel, Ärztlicher Direktor am EKM, warnt im Interview vor drastischen Nebenwirkungen verschobener Operationen.
Sie sind besorgt, weil Patienten, die dringend operiert werden müssten, dem Krankenhaus fern bleiben. Welche Abteilungen betrifft das besonders?
Grundsätzlich betrifft das alle Abteilungen. Besonders kritisch ist es zum Beispiel in der Gefäßchirurgie und Bauchchirurgie. Wir erleben, dass Patienten mit akuten Gallenblasenentzündungen oder Blinddarmentzündungen sehr spät zu uns kommen. Teilweise zu spät, wenn der Blinddarm schon durchgebrochen ist. Insbesondere bei Tumorerkrankungen und Gefäßverschlüssen kann das schwerwiegende Folgen haben.
Kennen Sie Fälle, in denen Patienten verstorben sind, weil sie zu lange gewartet haben? Menschen, die sonst sicher noch leben würden?
Leider ja. Allein aus meiner Abteilung, der Chirurgie, weiß ich von drei Tumorkranken, die aus Angst vor einer Corona-Infektion gar nicht mehr zum Arzt gegangen sind. Sie sind dann zwar noch notfallmäßig operiert worden, aber leider danach verstorben. Viele Menschen haben auch Vorsorgeuntersuchungen, beispielsweise Darmspiegelungen, nicht mehr ausreichend wahrgenommen.
Wir haben kürzlich über eine Mülheimerin berichtet, die eine Schulteroperation verschiebt, obwohl sie im Alltag schon Schmerzen hat. Sie macht sich Sorgen über die Zeit nach der OP, was eine mögliche Covid-19-Infektion bedeuten würde. Haben Sie Verständnis für solche Ängste?
Ich habe vollstes Verständnis bei allen Eingriffen, die man nicht unbedingt machen muss. Beispielsweise bei kosmetischen plastisch-chirurgischen Operationen. Wenn jemand aber eine neue Hüfte braucht und stattdessen Schmerzmittel schluckt, kann das Nebenwirkungen bis hin zum Magendurchbruch haben. Das sind Einzelfälle, aber sie summieren sich. Das Problem, was wir momentan haben, sind zum Teil unbegründete Ängste, sich ins Krankenhaus zu begeben. Manche Menschen richten dadurch viel Unheil an bei sich selbst. Und wenn die Menschen schwerer krank sind, länger stationär behandelt werden müssen, belastet das auch das System.
Es liegt nicht nur an den Patienten. Eine Zeitlang hat das Krankenhaus von sich aus alle Operationen verschoben, die nicht unbedingt notwendig waren…
Ja, im März, April galt das für alle Krankenhäuser. Und auch im Dezember, in der harten Zeit, mussten wir OPs absagen, um Intensivbetten frei zu halten. Aktuell haben wir aber nur noch fünf Covid-19-Patienten im Haus. Das hat sich zum Glück sehr entspannt.
Haben Sie aktuell im EKM viele Betten frei? Werben Sie deshalb um Patienten?
Nein. Wir haben aktuell zwar nur 338 Patienten im Haus und könnten bei vernünftiger Belegung 428 Betten fahren. Aber zu Wochenbeginn gibt es immer sehr viele Aufnahmen. Es wird voller werden. Freie Kapazitäten sind nicht der Grund, warum wir warnen. Wir möchten die Leute nicht so krank ins Krankenhaus bekommen. Seit dieser Woche arbeiten wir wieder im Vollbetrieb. Seit Montag sind alle Stationen wieder geöffnet.
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Welche Stationen waren geschlossen?
Die Kernstation der Chirurgie. Die Gefäßchirurgie und die Kardiologie waren halbiert, die innere Station hat mit weniger als halber Kapazität gearbeitet. Jetzt läuft die ärztliche Behandlung wieder ohne Einschränkungen. Natürlich ist das Krankenhaus sowieso komplett geteilt in einen Covid-Bereich und den normalen Bereich.
Wie weit sind Sie mit den Impfungen?
Da wir jetzt auch Astrazeneca einsetzen dürfen, sind alle geimpft, die direkten Kontakt zu Patienten haben, auch die Physio- und Ergotherapeuten. Und damit können sie das Virus nach neuesten Studien auch nicht mehr übertragen. Jeder hat mindestens eine Impfung bekommen, das Personal auf den Intensiv- und Isolierstationen schon zwei. In spätestens vier Wochen sind unsere Mitarbeiter alle geschützt.
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Um auf die verschobenen Operationen zurückzukommen: Je nach Schwere liegt man anschließend längere Zeit im Krankenhaus – unter Pandemie-Bedingungen. Die Patienten dürfen keinen Besuch bekommen. Woran merken sie sonst noch, dass Ausnahmezustand herrscht?
Daran, dass hier jeder mit einer Maske herumläuft. Auch die Geimpften, und das wird auch vorerst so bleiben. Außerdem werden die Patienten ständig getestet, zwei Mal wöchentlich, auch wenn sie keine Symptome haben. Sie werden 24 Stunden vor der OP-Aufnahme getestet, weitere PCR-Tests erfolgen nach fünf und nach zehn Tagen. Zusätzlich arbeiten wir mit Schnelltests. Wir haben erlebt - wie andere Häuser auch - dass Patienten bei der Aufnahme negativ waren und nach drei Tagen Symptome bekamen. Diese Infektionen müssen unbedingt durch Tests ganz früh erkannt werden.
Haben Sie aktuell noch Corona-Fälle beim Personal?
Keinen einzigen Fall. Und auch viel weniger grippale Infekte, weil ja alle ständig Mundschutz tragen. Man muss jetzt lernen, mit der Pandemie zu leben. Die Virusmutanten bekommen wir nur in den Griff, wenn wir Infektionen rasch bemerken und eingrenzen können. Die Strategie muss also sein: Impfen - und testen, testen, testen.
Online-Vortrag: Knie- und Hüftoperationen trotz Corona
Gerade Knie- oder Hüftgelenks-Operationen werden aufgrund der Corona Pandemie häufig aufgeschoben, so die Erfahrung am Evangelischen Krankenhaus Mülheim (EKM). Warum das teilweise schlimme Konsequenzen haben kann, will Dr. Jörg Daufenbach in einem kostenlosen Online-Vortrag am Mittwoch, 3. März, erläutern. Der Mediziner leitet das Endoprothetik-Zentrum am EKM und ist kommissarischer Chefarzt der Klinik für Unfall-, Wirbelsäulenchirurgie und Orthopädie.
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Ein künstliches Knie- oder Hüftgelenk einzusetzen, sei inzwischen ein Routine-Eingriff, der etwa fünf bis acht Tage Krankenhausaufenthalt mit sich bringt, heißt es in einer Mitteilung des EKM. Gerade in der Pandemie schreckten aber viele Leute davor zurück. Dr. Jörg Daufenbach warnt: „Das kann zum Teil schwerwiegende Folgen haben, denn je länger ein Eingriff aufgeschoben wird, desto länger können im Anschluss auch die Reha-Maßnahmen werden.“ Durch zu wenig Bewegung würden Muskeln abgebaut, der Allgemeinzustand könne sich verschlechtern.
Viele Betroffene nehmen lieber längere Zeit Schmerzmittel
Viele Betroffene würden lieber auf eigene Faust über längere Zeit Schmerzmittel nehmen, doch wichtig sei, dass die Patienten einen Arzt aufsuchen, „um die Dringlichkeit des Eingriffs zu besprechen“, betont Dr. Daufenbach.
Wer den Online-Vortrag live mitverfolgen möchte, muss sich vorher die kostenfreie App „TeamViewer Meeting“ herunterladen. Die Zugangs-ID lautet m914-839-31. Der Vortrag beginnt am 3. März um 18 Uhr. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Über die App kann man auch mit dem Referenten in Kontakt treten.