Mülheim. Angesichts hoher Infektionszahlen und schlechter Informationslage sind viele Mülheimer Eltern verunsichert. Nun kommen Schulschließungen.
Während die Sieben-Tage-Inzidenz in Mülheim seit über zwei Wochen deutlich über 100 liegt, die Zahl der angeordneten Quarantänen bereits vor den Osterferien stark in die Höhe geschnellt war, bereiteten sich Mülheims Schulen zuletzt für die Wiederaufnahme des Präsenzunterrichtes nach den Osterferien vor. Die Infektionslage sorgte bei Eltern für Verunsicherung, die spärliche Informationslage seitens des Ministeriums bei Schulen für Unmut. Die Entscheidung des Landes von Donnerstag, doch wieder für eine Woche in den Distanzunterricht zu gehen, warf (wieder einmal) alle Planungen der Schulen über den Haufen.
„Wir waren schon überrascht“, sagt Andreas Illigen, Leiter der Schildbergschule und Sprecher der Mülheimer Schulleitervertretung. Er sprach am Freitag von einem organisatorischen Wahnsinn, der mit der kurzfristigen Entscheidung des Landes verbunden sei. Erst am Donnerstagabend um 19 Uhr hatte es eine entsprechende Schulmail des NRW-Schulministeriums dazu gegeben.
Auch die erst kurz vor den Ferien ausgelieferten Laptops sind noch zu verteilen
Ab Montag wieder Distanzunterricht anzubieten, gilt es jetzt schleunigst vorzubereiten. Weitere Probleme sieht Illigen zu bewältigen. Etwa sind erst kurz vor den Osterferien die Schul-Laptops ausgeliefert worden. Sie sind noch nicht verteilt; wahrscheinlich für Montag will die Schildbergschule eine notwendige persönliche Übergabe an Eltern organisieren, die für einen Distanzunterricht darauf angewiesen sind.
Ein anderes großes Problem unbekannten Ausmaßes ist die Notbetreuung. Die Schule musste am Freitag noch eiligst eine Bedarfsabfrage bei den Eltern starten. Man rechne jetzt erst einmal mit dem Bedarf für 110 Schülern, die die Notbetreuung vor den Ferien besucht haben. Man sei aber nicht vor Überraschungen sicher, dass der Bedarf am Montag vielleicht deutlich höher ist. „Jetzt müssen wir versuchen, alle Beteiligten auf Stand zu bringen, damit es am Montag läuft“, sieht Illigen einige Wochenendarbeit auf sich und seine Kollegen zukommen.
Was passiert mit den Schülern, deren Eltern einen Selbsttest verweigern?
Immerhin eine Woche mehr Zeit haben die Grundschulen, sich auf die Selbsttests vorzubereiten, die am Freitag endlich die Schildberg- und andere Schulen erreicht hatten. In der kommenden Woche ist ein Konzept zu entwickeln, wie die Tests vonstatten gehen sollen.
Nächste Unbekannte: Völlig unklar ist laut Illigen, was mit den Schülern passieren soll, deren Eltern eine freiwillige Testung verweigern. Die Schüler dürfen dann nicht in die Schule kommen, laut Illigen werden alle Lehrkräfte aber gebunden sein an den Wechselunterricht, so dass für betroffene Schüler nicht mehr zu erwarten sei, als Lernpakete zu verschicken. Für Digitalunterricht sei keine Kapazität vorhanden. „Man wird sich was überlegen müssen“, so Illigen.
Wunsch von Eltern: Schüler sollen sich zu Hause testen können
Noch einmal zu den Tests selbst: „Die Schulen stellt das vor große Probleme“, sagt Illigen. „Das Testen bedarf einer gewissen Vorbereitung.“ Die Tests kommen in 20er-Paketen, müssen ausgepackt, sortiert und eingeteilt werden.
Überhaupt sei es praktisch schwer vorstellbar, wie sich gerade Erst- und Zweitklässler im Unterricht selbst testen, zumal Lehrer keinerlei Hilfestellung geben dürfen. Viele Eltern, so schildert es die Stadtschulpflegschaftsvorsitzende Julia Othlinghaus-Wulhorst, wünschen sich, dass die Tests zu Hause durchgeführt werden können. Das Argument der Nichtnachvollziehbarkeit verstehe sie, „aber was unterstellt man da den Familien? Es dürfte jeder so vernünftig sein, die Kinder zu testen und nicht positiv in die Schule zu schicken.“
Mülheimer Vater: Tests in Klassenräumen werden „Superspreader-Events“
Die Mehrheit der Eltern, mit denen sie geredet hat, habe sich für ein Fortführen des Wechselunterrichts ausgesprochen. „Das Konzept des Wechselunterrichts hat sich in den Augen der Eltern bewährt und ermöglicht den Kindern einen einigermaßen geregelten Ablauf.“ Es gibt aber auch kritische Väter und Mütter, die sich aufgrund der Infektionslage geschlossene Schulen und Kitas wünschen.
Einer von ihnen ist Christoph Kamburg. Er hat einen siebenjährigen Sohn, erkrankte selbst an Corona mit leichtem Verlauf, aber schweren Nachwirkungen: Bis heute kämpft er mit den Long-Covid-Folgen, hat Brustschmerzen und Atemprobleme, kann keinen Sport treiben, kein Fahrrad fahren. Seinen Vater verlor er an das Virus. „Ich weiß nicht, wie man auf die Idee kommen kann, bei dieser Lage Lockerungen zu erwägen.“ Mit Sorge blickt er dabei auf die Erfahrungen aus England mit Spätfolgen für an Corona erkrankte Kinder sowie auf die in Studien festgestellte höhere Infektions- und Sterberate der britischen Mutante.
Dass die Tests in Klassenräumen zu „Superspreader-Events“ werden, weil 15 Kinder gleichzeitig die Masken abnehmen, fürchtet der 50-Jährige. Ihre Genauigkeit sei nicht ausreichend, sie sollten, wenn überhaupt, an der frischen Luft und durch Fachpersonal durchgeführt werden. „Viele Eltern denken so wie ich“, sagt Kamburg. Er engagiert sich in der Bewegung „Sichere Bildung“, die sich für die „No-Covid-Strategie“ und das Aussetzen der Präsenzpflicht einsetzt.
Zahl der jungen Infizierten gestiegen
„Das, was wir jetzt haben, ist kein Lockdown“, sagt Kamburg und verweist auf die Wirksamkeit des „echten“ Lockdowns im vergangenen Frühjahr. Diese Maßnahmen seien im Laufe des Sommers zerredet worden. Nun würden angesichts der ohnehin hohen Infektionszahlen die Inzidenzen weiter steigen, wenn Schulen und Kitas öffnen. Präsenzunterricht sei zwar wichtig, aber er müsse sicher sein – zum Beispiel durch Raumfilteranlagen, die beispielsweise für den Landtag, nicht aber für Schulen angeschafft wurden.
Tatsächlich war die Zahl der unter 20-jährigen Infizierten vor den Ferien deutlich gestiegen und machte zwischenzeitlich ein Drittel der Gesamtinfektionen in Mülheim aus. Über die Ferien sind die Infektionen in dieser Altersgruppe etwas zurückgegangen.
Allerdings, egal ob bei Wechselunterricht oder Distanzlernen: Ein nicht unerheblicher Teil der Kinder kommt ohnehin in die Schule. „Die Zahl der Kinder in der Notbetreuung ist wöchentlich gestiegen“, sagt Schulleiter-Sprecher Illigen.
Notbetreuung wird häufiger genutzt
Zuletzt seien es an der Schildbergschule mehr als ein Drittel der 320 Erst- bis Viertklässler gewesen. „Die Gruppen wachsen immer weiter an und wir wissen kaum, wie wir die Abstände gewährleisten sollen.“ Das Amt für Schule erfasst die Notbetreuungszahlen in der Stadt nicht mehr, „um unsere Schulen soweit wie möglich zu entlasten“, sagt Abteilungsleiter Peter Hofmann.
Doch nach vielen Monaten des Homeschoolings wissen viele Eltern nicht mehr, wie sie ihre Kinder zu Hause halten sollen, weil die Kinderkrankentage aufgebraucht sind und Homeoffice nicht immer möglich ist – oder kaum vereinbar mit der Kinderbetreuung. „Ich weiß nicht, wie ich das überstehen soll, wenn die Schulen komplett zum Homeschooling zurückkehren“, sagt Julia Othlinghaus-Wulhorst, die sich Wechselunterricht wünscht. „Man versucht, überall Brände zu löschen. Es ist chaotisch.“
Die aktuelle Entscheidung der Landesregierung kann die Vorsitzende der Stadtschulpflegschaft „überhaupt nicht verstehen, es ist nichts Halbes und nichts Ganzes und wieder unbefriedigend, weil nicht sicher ist, was in einer Woche kommt, ob dann wirklich wieder zum Wechselunterricht zurückgekehrt wird“.