Mülheim. Premiere in Mülheim: Ab jetzt gibt es die Einheitsausbildung für Kranken- und Altenpflege. Einige sind froh darüber, andere haben Befürchtungen.
Für Chantal Leygraf ist die Sache lange klar: „Ich möchte Menschen helfen, für andere da sein, sie würdevoll begleiten.“ Aus diesem Beweggrund hat sich die 23-Jährige für eine Pflegeausbildung entschieden. Ob sie aber Neugeborene betreuen wird, Patienten in der Lebensmitte oder Hochbetagte, ist völlig offen. Die junge Frau gehört zu den ersten, die an der Mülheimer Contilia-Akademie mit der generalistischen Ausbildung begonnen haben. Insgesamt starten dort 39 Schülerinnen und neun Schüler.
Seit 1. Oktober sind allerorten drei Ausbildungen zu einer verschmolzen: Pflegefachfrau oder Pflegefachmann. Die ersten beiden Jahre durchlaufen alle Azubis gemeinsam. Im dritten Jahr können sie entweder den allgemeinen Weg fortsetzen - dieser Abschluss wäre dann EU-weit anerkannt - oder sich auf die Kinderkrankenpflege oder die Altenpflege konzentrieren.
Aktuell 66 Pflege-Ausbildungsplätze in Mülheim
In Mülheim gibt es laut Arbeitsagentur derzeit 66 Ausbildungsplätze in der Pflege. Die beiden Krankenhäuser haben eigene Schulen: Ategris-Fachschule (EKM) und Contilia-Akademie (St. Marien-Hospital). Die Altenheime und Pflegedienste arbeiten mit verschiedenen Fachseminaren zusammen, etwa mit dem Fliedner-Werk oder der Kaiserwerther Diakonie in Mülheim, oft auch mit Schulen in benachbarten Städten.
Arbeitsagentur: „Tolle Chancen“ in der Pflege
Bei der Berufsberatung der Arbeitsagentur in Mülheim waren Ende Oktober 18 Bewerber/innen für eine Pflegeausbildung gemeldet. Infos gibt es dort unter der Rufnummer 0208/8506-112.
Eine Sprecherin der Arbeitsagentur betont, „dass examinierte Pflegekräfte händeringend gesucht werden und es tolle Chancen in dem Job gibt“. Neben der neuen Ausbildung wurde auch ein Pflegestudiengang eingeführt.
Schulgeld muss nach dem neuen Modell niemand mehr zahlen. Es gibt eine Ausbildungsvergütung, sie liegt im ersten Jahr bei rund 1.140 Euro, im zweiten bei 1.200 und im dritten Lehrjahr bei 1.300 Euro.
Nach dem jüngsten Tarifabschluss im öffentlichen Dienst bekommen Azubis demnächst 25 Euro mehr. Für ausgebildete Pflegekräfte wurden weitere Gehaltssteigerungen und Zulagen vereinbart. Bislang wurde der Abschluss aber noch nicht von den kirchlichen Trägern übernommen.
Vorgesehen sind 2100 Stunden theoretischer Unterricht, 2500 Stunden praktische Ausbildung. Überall mussten jetzt Curricula neu geschrieben und Kooperationspartner aufgetan werden, um alle Bereiche abzudecken. Susanne Lehmann, Leiterin der Contilia-Akademie mit fast 30-jähriger Berufserfahrung, sagt: „Es ist ein Experiment für uns alle.“
Schulleiterin: Ein Experiment für uns alle
Viele wollen das Experiment mitmachen: Für die 48 Ausbildungsplätze an ihrer Schule gab es rund 400 Bewerbungen. Zugleich umwirbt die Akademie Nachwuchskräfte, von denen sie überzeugt ist: Chantal Leygraf beispielsweise hat einen kleinen Sohn. Man versucht, ihren Dienstplan auf die Kinderbetreuungszeiten abzustimmen. „So kommen wir den Leuten, die am Beruf wirklich Spaß haben, auch entgegen“, erklärt die Schulleiterin. Schon als Schülerin hat Chantal Leygraf erstmals ein Praktikum in einem Seniorenheim absolviert. Später folgte ein Jahrespraktikum im Alloheim-Wohnpark Dimbeck. Ab Februar war sie Pflegehelferin im Mülheimer Franziskushaus, hat dort auch monatelang unter den Corona-Beschränkungen gearbeitet.
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Die Pandemie macht den Start der generalistischen Ausbildung nicht leichter. Für die Präsenzphasen in der Contilia-Akademie wurden Plexiglasscheiben angeschafft, verstärkt wird auch Online-Unterricht angeboten. Auch in der praktischen Ausbildung sei größte Vorsicht geboten, erläutert Maik Stanczyk, Pflegedienstleiter im St. Marien-Hospital: „Die Schüler sind nur noch in einem stationären Fachbereich eingesetzt. Es gibt keine Springer mehr.“ Der gesamte Isolationsbereich sei für die Ausbildung ohnehin tabu. Das galt schon vor Corona.
Beruf bietet nach dem Examen viele Möglichkeiten
Maik Stanczyk wirbt für den Pflegeberuf, aus Überzeugung: „Nach dem Examen ist nicht das Ende der Fahnenstange erreicht. Es gibt so viele Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln.“ Er ist auch ein klarer Befürworter der generalistischen Ausbildung, obwohl sie für die Azubis eine Herausforderung sei.
Für die Altenheime bringe das neue Modell eine deutliche Qualitätsverbesserung, glaubt der Pflegedienstleiter, „denn dort leben Menschen, die nicht nur alt sind, sondern auch alle möglichen Zusatzerkrankungen haben“. Andererseits werde auch die Krankenpflege profitieren, „denn wir haben viele hochbetagte Patienten hier“. Zusammenarbeit, Akzeptanz aller Fachbereiche müsse das Ziel sein: „Alles muss auch auf dieselbe Stufe gestellt werden.“
Azubi Chantal Leygraf hat bislang fast ausschließlich die eine Seite kennengelernt, die Altenpflege. Fragt man sie jedoch nach ihrem Wunsch-Job, den sie nach dem Examen gerne hätte, dann sagt die 23-Jährige: „Ich würde das Krankenhaus wählen.“ Genau das ist es, was Kritiker des neuen Modells befürchten.
Altenpflege-Profis betrachten neue Ausbildung zwiespältig
Im Bereich der Altenpflege wurde die Ausbildungsreform von Anfang an höchst skeptisch begleitet, auch in Mülheim. Nach dem Start sind die kritischen Stimmen nicht verstummt.
So erkennt Alexander Keppers, Geschäftsführer der Mülheimer Seniorendienste mit drei Altenheimen und einem ambulanten Pflegedienst, hier „Licht und Schatten“. Medizinische und pädiatrische Lehrinhalte stünden jetzt stärker im Vordergrund. Das mache die neue Ausbildung zum einen komplexer, „zum anderen werden für die Altenpflege wichtige soziale Themen nicht mehr so ausführlich behandelt“. Wie sich das künftig auswirkt, könne man noch nicht bewerten, so Keppers.
Die Ausbildungsträger hätten jetzt deutlich mehr administrativen Aufwand, meint der Geschäftsführer. So müssten Kooperationspartner im Bereich der Kinderheilkunde erst einmal gefunden werden. Bei den Mülheimer Seniorendiensten sind zum 1. Oktober neun Azubis gestartet. Betreut werden sie von einem Ausbildungskoordinator, den es dort seit September gibt.
Sorge vor verschärfter Konkurrenz mit den Krankenhäusern
Fraglich sei, ob eine schwierigere Ausbildung dazu beitragen kann, mehr Absolventen für die Altenpflege zu gewinnen, gibt Keppers zu bedenken. „Perspektivisch schafft sie eine Konkurrenzsituation zwischen Altenpflege und Krankenhäusern, da ein Wechsel künftig einfacher möglich ist.“ Und dann haben die Krankenhäuser vermutlich bessere Karten, auch weil hier im Schnitt höhere Gehälter gezahlt werden.
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Ähnliche Sorgen äußert Christoph Happe, Sozialdienstleiter in den Pflegeheimen Haus Ruhrgarten und Ruhrblick. „Wir befürchten, dass sich viele nach Ende ihrer Ausbildung für die Krankenpflege entscheiden.“ Ohnehin sei die Abwerbung von Fachkräften schon lebhaft im Gange. Aus seinem Haus habe es sehr kritische Stimmen zur Ausbildungsreform gegeben. „Aber jetzt ist es Gesetz, ein demokratischer Prozess, den wir akzeptieren müssen.“ Der Prozess bleibt aber in Bewegung: Das Modell soll nach sechs Jahren überprüft werden.