Mülheim. In Sachen Seniorenfreundlichkeit geben die Mintarder ihrem Stadtteil eine Vier minus. Letzter Platz. Trotzdem wollen sie dort „ganz alt werden“.
Anna Seeger kommt aus der Arbeit kaum noch heraus. Dabei hat die 65-Jährige ihre Berufstätigkeit als PR-Beraterin schon zurückgefahren. Die Renovierung ihres Hauses hält sie auf Trab. 280 Quadratmeter, verteilt auf drei Etagen, dahinter ein großzügiger Garten. „Früher haben hier sieben Leute gewohnt, vier Generationen“, sagt die Mintarderin, „jetzt sind alle weg.“ Bis auf eine: sie selber.
Als 66-Jährige alleine im Elternhaus: „Früher wohnten hier vier Generationen“
Hier im Dorf, mit Blick auf die Ruhrtalbrücke, hat Anna Seeger ihr ganzes bisheriges Leben verbracht, und hier will sie bleiben. Auch wenn sich um sie herum vieles verändert hat. Ihre Kinder sind weggezogen, ihre Mutter lebt im Pflegeheim. Seeger muss sich mit Mitte Sechzig neu orientieren, und ähnlich geht es anderen in ihrer Nachbarschaft. „Wir wollen hier ganz alt werden“, sagt sie, „wie unsere Eltern.“ Doch, wenn sie auf die nächsten zwei Jahrzehnte schaut, sieht sie auch ernsthafte Probleme.
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Aus diesem Grund hat das wunderschöne Mintard beim Stadtteil-Check der WAZ auch einige schlechte Noten bekommen. Bei der Seniorenfreundlichkeit landet der kleinste Mülheimer Stadtteil mit rund 800 Einwohnern weit abgeschlagen auf dem letzten Rang. Die Teilnehmer der Umfrage vergaben eine Durchschnittsnote von 4,47. Sicher ist das kein repräsentativer Wert, doch es trifft die Stimmung vor Ort.
ÖPNV-Anbindung mangelhaft, kein Hausarzt in der Nähe
Anna Seeger bringt es auf den Punkt: „Die ÖPNV-Anbindung ist absolut mangelhaft und auch die hausärztliche Versorgung“, die ja im Alter zunehmend wichtig wird. Wenn Arztbesuche anstehen, fahren die Mintarder meist nach Kettwig, Saarn oder Ratingen. In den Genuss von Hausbesuchen kämen nur noch „die ganz alteingesessenen Mintarder“, erklärt Seeger. Direkte Nahverkehrslinien nach Kettwig und Breitscheid existieren nicht mehr, Richtung Mülheim fährt nur stündlich ein Bus.
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Diese Abgeschiedenheit und mögliche Gegenmaßnahmen sind ein Dauerthema, dem sich auch der 2009 gegründete Bürgerverein Wir in Mintard (WiM) beharrlich widmet. Zu den Aktiven dort gehört Dr. Jürgen Zentgraf, Leiter des Mülheimer Umweltamtes, der seit 1988 im Dorf heimisch ist und möglichst nicht mehr umziehen möchte. Der 65-Jährige sagt: „Wir haben alle den gleichen Wunsch, hier zu bleiben, weil man in Mintard - von den Widrigkeiten abgesehen - gut lebt.“ Ideen, so Zentgraf, könnte man bei anderen Stadtteilen abgucken, etwa das Modell Bürgerbus.
Der Stadtteil-Check kurz und kompakt
3250 Leserinnen und Leser haben am Mülheimer Stadtteil-Check teilgenommen.
Die Ergebnisse der Umfrage sind nicht repräsentativ, aber: „Der Stadtteil-Check liefert wegen der sehr großen Beteiligung ein gutes Stimmungsbild“, sagt Dr. Ana Moya, die für die Auswertung zuständige Statistik-Expertin der Funke Mediengruppe. Im Stadtteil-Check finden Sie:
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Erinnerungen an die fünfziger Jahre, als es noch Geschäfte und Gaststätten gab
Ebenfalls engagiert im Bürgerverein ist Karl-Heinz Dahmen (70). Er hat Kindheitserinnerungen an die fünfziger Jahre, als es im Dorf noch Handel gab: Bäcker, Metzger, Lebensmittelladen, Blumengeschäft, Sparkasse. „Wir waren voll versorgt“, sagt Dahmen, „auch was Gaststätten, Kneipen angeht, in denen man sich traf.“ Das ist vorbei - allein das Franky’s hat eine Neueröffnung im Mintarder Wasserbahnhof riskiert, ausgerechnet zu Beginn der Corona-Pandemie. Noch habe er mit der fehlenden Nahversorgung in Mintard keine Probleme, meint Dahmen, und die anderen stimmen ihm zu: „Durch mein Auto bin ich ja flexibel.“ Ohne Auto, ohne Mobilität, wird es schwierig.
WLAN-Wüste: Bagger für Breitband sollten längst rollen
Ein großes Manko in Mintard, das auch den Bürgerverein seit langem bewegt, ist die absolut rückständige Internetanbindung, das fehlende WLAN. Es macht nicht nur Homeschooling, Homeoffice, Videokonferenzen unmöglich, nervt nicht nur die jungen Leute, sondern ebenso die technikaffinen Senioren. „Ab und zu funktioniert das Mobilfunknetz“, so die Erfahrung von Jürgen Zentgraf - meistens aber nicht. „Kein Netflix, kein Amazon Prime.“ Ein Ärgernis und ein zusätzlicher Kostenfaktor. „Die Bagger für Breitband sollten schon im Januar 2020 rollen“, bemerkt Karl-Heinz Dahmen, „aber nicht passiert“.
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Auch Freizeitangebote für die ältere Generation gibt es nicht vor Ort. Dominant im Dorf ist der Sportverein DJK Blau-Weiß Mintard, doch dort kann man ausschließlich Fußball aktiv betreiben.
Konzertreihe „Mintarder Vierjahreszeiten“ ist vorerst verklungen
Um das kulturelle Leben zu bereichern, rief ein ehrenamtlicher Kreis 2008 die Konzertreihe „Mintarder Vierjahreszeiten“ ins Leben, Anna Seeger gehörte dazu. Vier bis fünf Gastspiele gab es pro Jahr und ein Sommerfest, alle Einnahmen spendete die Gruppe den Wohngruppen des Kinderheims St. Josef. Nun sind die „Vierjahreszeiten“ bis auf Weiteres verstummt. Das letzte Konzert sei im Advent 2019 in der Mintarder Dorfkirche erklungen, berichtet Anna Seeger.
„Was wir uns sehr wünschen würden“, sagt Jürgen Zentgraf, „ist ein Gemeinschaftsraum, wo sich die unterschiedlichsten Initiativen treffen können.“ Mit einem Fassungsvermögen von etwa 100 Personen und kostenfrei zu nutzen. Vom „Sozialgefühl“ in Mintard, von der gewachsenen, verlässlichen Nachbarschaft, schwärmen indes alle. Sie habe sich gerade auch in Corona-Zeiten sehr bewährt.
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Nicht allen, die gerade ins Rentenalter gerutscht sind, genügt das. „Meine Nachbarin hat ihr Haus verkauft“, berichtet Anna Seeger, „sie zieht nach Saarn, wegen der besseren Infrastruktur.“ Für sie selber kommt das nicht infrage. Sie hat sich lieber eine junge Mieterin ins Haus geholt, das jetzt zumindest wieder ein Zwei-Generationen-Haus ist.