Mülheim. Wahlkampf kann lehrreich sein: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und OB-Kandidatin Monika Griefahn (SPD) besuchten ein Mülheimer Seniorenheim.
Im neu eröffneten Seniorenstift St. Christophorus in Broich war am Dienstag eine große SPD-Delegation zu Gast, allen voran Bundesarbeitsminister Hubertus Heil. Auf Einladung von OB-Bewerberin Monika Griefahn ging es um den Alltag in der Pflege. Menschen, die hier arbeiten, fanden offene Worte. Aber erst einmal wurde die Körpertemperatur kontrolliert.
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Egal, wer das Haus an der Kirchstraße betritt: Jedem Besucher wird ein Fieberthermometer vor die Stirn gehalten, jeder hat einen Mundschutz zu tragen. Es sind belastende Zeiten für Bewohner wie Beschäftigte, das wurde auch in der großen Gesprächsrunde mit Hubertus Heil deutlich. Aber einige Probleme, die dem Bundesminister für Arbeit und Soziales vorgetragen wurden, bestanden schon vor Corona.
Heimleiterin: Es gab extreme Schwierigkeiten mit Angehörigen
Das Seniorenstift St. Christophorus wurde an Stelle des alten Hildegardishauses errichtet, es gehört zur katholischen Contilia-Gruppe. Kaum waren 56 alte Menschen im Februar dort eingezogen, brach Corona aus. Normalität konnte für die Pflegebedürftigen und ihr Umfeld kaum eintreten, berichtet Einrichtungsleiterin Jennifer Lützenburg: „Es gab extreme Schwierigkeiten mit Angehörigen, die teilweise überhaupt kein Verständnis für das Besuchsverbot hatten.“ Von der WTG-Behörde in Mülheim, sprich: der Heimaufsicht, seien sie aber sehr gut begleitet und unterstützt worden.
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„Gerade zu Beginn der Pandemie war es ein Drahtseilakt, alle Erlasse umzusetzen“, ergänzt Pflegedienstleiter Martin Cwik. Täglich habe man auf Lockerungen gehofft, immer kam noch etwas obendrauf. Infektionen gab es bislang keine, dennoch war Quarantäne in einigen Fällen notwendig: nach Krankenhausaufenthalten oder wenn neue Leute einzogen. Die langjährige Pflegefachkraft Bettina Ellersick (57) fand es besonders schwierig, den Demenzkranken verständlich zu machen, dass ihre Kinder und Enkel nicht mehr kommen können. „Wir haben diese Bewohner dafür öfter mal in den Arm genommen.“
Ohne Hilfe aus anderen Häusern hätten sie es nicht geschafft
Der Bundesarbeitsminister hakt nach, fragt nach praktischen Dingen: Gab es genügend Schutzkleidung für die Pflegekräfte, ausreichend Masken? Zunächst nicht, bekommt er zur Antwort. Da das Seniorenstift erst im Februar eröffnet hat, verfügte es kaum über Lagerbestände: „Andere Häuser haben uns ausgeholfen und auch die Stadt“, berichtet der Pflegedienstleiter. „Ohne den Verbund in der Contilia hätten wir es gar nicht geschafft“, meint Martin Cwik. Desinfektionsmittel wurden in Eigenproduktion hergestellt, Masken zu Hause genäht...
Der Bundesarbeitsminister spannt den Bogen weiter: Heil nennt es „eine erschütternde Erfahrung, dass wir in Europa so verwundbar und verletzlich sind“. Lehre für die Zukunft müsse sein, bestimmte Fähigkeiten zu behalten, Produktionen - etwa von Schutzausrüstung - zurückzuholen.
Geschäftsführer: Kernproblem ist der Personalschlüssel
Dann schwenkt er über zu den Arbeitsbedingungen in der Pflege, zur Bezahlung, zur tariflichen Bindung, die - so Hubertus Heil - nur für ein Fünftel der Altenpflegerinnen gegeben sei. Heinz-Jürgen Heiske, Geschäftsführer des Contilia-Bereiches Pflege und Betreuung, verweist auf das Tarifwerk der katholischen Kirche, das in ihren Häusern gelte. Für ihn steht fest: „Das Kernproblem ist nicht die Vergütung, sondern es sind die Rahmenbedingungen in der Pflege.“
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Derzeit gelte ein Personalschlüssel von eins zu zwölf, „vielleicht noch schlechter, wenn jemand ausfällt“. Heiske fürchtet: „So werden wir künftig keine Leute mehr finden, die in der Pflege arbeiten wollen.“ Wünschenswert sei ein Verhältnis von eins zu sechs oder sieben: eine Pflegekraft für sechs, sieben Bewohner. „Dann könnten die Mitarbeiter auch mal ein Gespräch führen, ohne schlechtes Gewissen. Dann macht der Beruf wieder richtig Spaß und öffnet einer neuen Generation die Tür in die Pflege.“
Pflege-Azubi: Berufswahl noch nicht einen Moment bereut
Eine Vertreterin der neuen Generation war bei der Ministerrunde schon dabei: Laura Kazimierczyk steht kurz vor dem Abschluss ihrer Altenpflege-Ausbildung. Freunde, Familie, alle würden sie fragen: Warum machst du das, schlechte Bezahlung, schlechte Bedingungen… Die 20-Jährige sagt: „Ich habe noch nicht einen Moment bereut, dass ich in die Pflege gegangen bin. Aber es ist echt schwierig.“ Lauras Ausbildung endet in sechs Wochen. Die Theorie wird vermittelt, doch: „Bisher habe ich noch keine Sekunde Praxisanleitung genossen. Vieles muss man sich selber beibringen.“ Und so sei es bei allen Pflegeschülern, mit denen sie spricht. Den erfahrenen Kolleginnen fehle schlicht die Zeit.
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Hubertus Heil nennt seinen Besuch im St.-Christophorus-Heim ein „Speed-Dating“. Einen kurzen Eindruck habe er gewonnen und verspricht etwas mitzunehmen: „Dass man beispielsweise am Betreuungsschlüssel arbeiten muss.“ Der Bundesarbeitsminister ist sich sicher: „Nach der Pandemie werden wir eine grundsätzliche Debatte über Pflege und Gesundheit in Deutschland bekommen.“ Niemand in der Mülheimer Runde hätte wohl etwas dagegen.