Herne. Die Projekte heißen Sacher, TORTE, oder H2annibal. Mit ihnen soll das Herner Evonik-Werk klimaneutral gemacht werden. Es ist Vorbild im Konzern.

2050: Bis zu diesem Zeitpunkt will der Essener Chemiekonzern Evonik klimaneutral sein. Dieser Weg ist lang, doch im Herner Werk ist man längst die ersten Schritte gegangen. Der Standort in Eickel gilt damit als Vorbild für den ganzen Konzern - und vielleicht ein wenig auch für die gesamte Industriebranche.

Evonik in Herne liefert den Stoff, um Rotorblätter größer bauen zu können

Dieses Wissen ist bislang nicht allzu verbreitet: Ohne Chemie wäre eine Klimawende wohl nicht zu stemmen. Und gerade das Herner Evonik-Werk spielt mit seinen Produkten eine zentrale Rolle: Es ist der weltweit größte Standort für Isophorondiamin. Dabei handelt es sich um eine schon recht komplexe Verbindung, die sich aber nur aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Stickstoff zusammensetzt. Doch, so Standortleiter Rainer Stahl: „Wir arbeiten hier mit Komponenten, die man auf den ersten Seiten eines Chemiebuchs findet.“

Doch dieses Isophorondiamin hat Eigenschaften, mit denen die Flügel von Windkraftanlagen bei gleichem Gewicht noch größer gebaut werden können - und damit eine bessere Energieausbeute erzielen können. „Acht von zehn Windkraftanlagen enthalten Produkte von Evonik“, erzählen Stahl und Lutz Komorowski, Leiter der Elektro-, Mess- und Regeltechnik im Gespräch mit der Herner WAZ-Redaktion.

Rainer Stahl, Standortleiter des Evonik-Werks in Herne, hat eine Vielzahl an Ideen, um der Klimaneutralität nahe zu kommen.
Rainer Stahl, Standortleiter des Evonik-Werks in Herne, hat eine Vielzahl an Ideen, um der Klimaneutralität nahe zu kommen. © FUNKE Foto Services | Rainer Raffalski

So weit, so erfolgreich. Doch Stahl und Komorowski wollen nicht nur Komponenten für die globale Klimawende liefern, sie wollen sie auch selbst an der Herzogstraße umsetzen. Und das mit aller Konsequenz, das machen sie im Gespräch deutlich. „Wir haben uns unsere chemischen Prozesse angeschaut und uns gefragt, ob man die auch anders gestalten kann“, so Stahl und Komorowski. Sie ließen ihre Gedanken kreisen und stießen so auf eine Vielzahl an Antworten und entwickelten daraus ein Konzept, um das Werk grün aufzustellen. Im Konzern ist das Eickeler Werk inzwischen so etwas wie ein Pilotprojekt; in Anlehnung an den von der EU ausgerufenen „Green Deal“ heißen die Aktivitäten an der Herzogstraße „Herne Green Deal“.

Dieser Deal gliedert sich in verschiedene Einzelprojekte - die prägnante Namen haben: H2annibal, HAmst:ER, HASe, Sacher oder TORTE.

Im ehemaligen Salzlager des Eickeler Evonik-Standorts soll der Elektrolyseur Platz finden, der im Mittelpunkt des Projekts H2annibal steht.
Im ehemaligen Salzlager des Eickeler Evonik-Standorts soll der Elektrolyseur Platz finden, der im Mittelpunkt des Projekts H2annibal steht.

Das Projekt H2annibal hat Stahl im Frühjahr vorgestellt: Dabei investiert Evonik in einen Elektrolyseur zur Erzeugung von grünem Wasserstoff, der ja Ausgangsstoff für die Produktion von Isophorondiamin ist. In einem begleitenden Projekt erforscht Siemens Energy, wie sich diese Elektrolysetechnologie im industriellen Umfeld in der Chemie bewährt. Sowohl das Investitions- als auch Forschungsprojekt werden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit insgesamt 9,3 Millionen Euro gefördert. Die Gesamtinvestitionssumme liegt jenseits von 15 Millionen Euro.

„Scheuklappen ablegen und nach der besten Lösung suchen“

Andere Projekte beschäftigen sich mit der Nutzung von Abwärme, die bislang ungenutzt bleibe, auch sollen Abgase wieder in Rohstoffe verwandelt werden. Die Reifegrade der unterschiedlichen Projekte seien unterschiedlich: H2annibal und TORTE stecken in der Umsetzung, bei anderen Verfahren wisse man, dass sie funktionieren - oder geht vor dem Hintergrund der theoretischen Grundlagen davon aus, dass sie funktionieren werden. Neben den Vorhaben, die bereits einen Namen tragen, haben Komorowski und Stahl noch eine Vielzahl an weiteren Ideen im Kopf. Sie hätten die Scheuklappen abgelegt, um das gesamte Bild erkennen zu können. Stahl: „Man muss nach der insgesamt besten Lösung suchen und sicherstellen, dass Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit Hand in Hand gehen.“

Die ersten Windkraftanlagen werden langsam ausgemustert. Bei Evonik denkt man darüber nach, wie die Flügel recycelt werden können.
Die ersten Windkraftanlagen werden langsam ausgemustert. Bei Evonik denkt man darüber nach, wie die Flügel recycelt werden können. © dpa | Christian Charisius

Wie weit die Überlegungen gehen, offenbart folgendes Beispiel: Die allermeisten Windradflügel drehen sich mit Hilfe der Evonik-Produkte. Nun beginnt langsam die Zeit, in der die ersten Anlagen ausgemustert werden. Da stellt sich die Frage, was mit den Rotorblättern geschehen soll. Instrumente für die Klimawende als Sondermüll zu entsorgen wäre wohl ein Widerspruch, also denkt man bei Evonik über Recycling nach. Und Teile aus dieser Wiederverwertung könnten in Herne für die Produktion von Rohstoffen verwendet werden, so Stahl.

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Stahl und Komorowski betonen: Bei der Realisierung all dieser Ideen bleibt der Kern des Werks unangetastet: Die Verfahrenstechnik müsse nicht verändert werden. Darüber hinaus kämen ihnen in Herne besondere Bedingungen entgegen: Das Werk verfügt bereits über eine Wasserstoffleitung, ebenso über einen Anschluss an das Fernwärmenetz. Wärme und Wasserstoff spielen in den Überlegungen zentrale Rollen.

Das Ziel: Den CO2-Rucksack des Werks auf Handtaschengröße schrumpfen

Und wie lange wird es dauern, bis die Vision in der Wirklichkeit angekommen sind? Die Beiden gehen von mindestens 15 Jahren aus. Man müsse auch abwarten, welche dieser Prozesse wirtschaftlich umzusetzen seien, dabei spiele die Höhe des Strompreises eine ganz wichtige Rolle. Von ihrem Ziel rücken Stahl und Komorowski allerdings nicht ab. Sie wollen den Standort unabhängig von fossiler Energie und fossilen Rohstoffen machen und damit für die nächsten 20 Jahre zukunftssicher. „Wir wollen den CO2-Rucksack des Werks auf die Größe einer Handtasche schrumpfen.“