Herne. Unzumutbare Belastung oder wichtiges Zukunftsprojekt? An der Wohnbebauung auf einem Herner Sportplatz scheiden sich die Geister. Die Argumente.

Es geht „nur“ um ein Bauprojekt in einem Herner Stadtteil. Doch in der Kontroverse um die Pläne für ein neues Wohnviertel auf dem Ex-Sportplatz Reichsstraße in Eickel stehen auch grundsätzliche Fragen zur Diskussion: Es geht um Stadtentwicklung und Lebensqualität, die Verkehrswende, Kita-Notstand und Klimaschutz sowie um Formen der Bürgerbeteiligung. Das wurde vor Ort bei einer Informationsveranstaltung für Anwohnerinnen und Anwohner sehr deutlich.

Das Projekt

146 Wohneinheiten in der Größe von 60 bis 110 Quadratmetern sowie 106 Tiefgaragen-Stellplätze sollen auf dem ehemaligen Sportplatz entstehen. Neben einigen Reihen- und Einfamilienhäusern sind vor allem drei- und viergeschossige Mehrfamilienhäuser geplant. Rund 30 Mietwohnungen sollen öffentlich gefördert werden, sprich: auch für Menschen mit niedrigem Einkommen erschwinglich sein. Zurzeit läuft in den politischen Gremien noch das formale Bebauungsplanverfahren. 70 der 140 Bäume auf dem Areal sind bereits im Herbst 2022 gefällt worden.

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Die Veranstaltung

Den Anstoß für diese Veranstaltung der beim Bauprojekt federführenden Stadttochter SEG (Stadtentwicklungsgesellschaft) hatte Eickels Bezirksbürgermeister Adi Plickert gegeben. Es bestünden Fragen, Sorgen und Ängste, sagte der Sozialdemokrat. Bürgerbeteiligung sei da immer das Beste: Dabei könne auch erörtert werden, wo es für die Politik zu konkreten Punkten „noch Möglichkeiten zur Reaktion gibt“. Allen müsse jedoch klar sein, so Plickert, dass die Bebauung nicht mehr komplett gestoppt werde. Man sei bei diesem 2016 „begonnenen Marathon bereits auf der Zielgerade“.

Bei der Informationsveranstaltung an der Reichsstraße drängten sich die Teilnehmenden bei zeitweise strömendem Regen im und rund um den SEG-Pavillon.
Bei der Informationsveranstaltung an der Reichsstraße drängten sich die Teilnehmenden bei zeitweise strömendem Regen im und rund um den SEG-Pavillon. © FUNKE Foto Services | Sebastian Sternemann

Auf dem alten Kunstrasenplatz standen neben der SEG Vertreterinnen des Investors Sparkasse Herne, des ausgewählten Architekturbüros und der Baugesellschaft Rede und Antwort. Rund 30 Anwohnerinnen und Anwohner sowie zahlreiche Politikerinnen und Politiker aus Rat und Bezirk hatten den Weg zur Reichsstraße gefunden.

Der Widerstand

Am Widerstand gegen das Bauprojekt änderte die Versammlung nichts. Mitglieder der 2022 aus Protest gegen die Pläne gegründeten Bürgerinitiative (BI) sowie weitere Anwohnerinnen und Anwohner brachten mehrere Gründe für ihre Ablehnung vor. In den meisten Beiträgen ging es um die durch die Wohnbebauung entstehenden Belastungen fürs Umfeld. Vereinzelt wurde auch die Forderung nach einer kompletten Begrünung des Grundstücks laut, doch die Mehrheitsmeinung der Anwesenden brachte eine Anwohnerin so auf den Punkt: „Wir sind ja nicht gegen eine Bebauung, aber warum muss es so dicht und kompakt sein?“

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Der Verkehr

Eine erhebliche Zunahme des Verkehrs und ein Notstand bei Parkplätzen: Diese beiden Sorgen wurden in der knapp zweistündigen Diskussion immer wieder laut. SEG- und Planungsamts-Chef Achim Wixforth räumte ein, dass es bei den Stellplätzen zu „Konkurrenzen“ kommen werde. Aber: Es sei nicht Aufgabe der Stadt, im öffentlichen Straßenraum Stellplätze zur Verfügung zu stellen. Die Nachfrage einer Bürgerin, ob denn die neuen Bewohnerinnen und Bewohner wenigstens vertraglich zur Anmietung eines Tiefgaragenplatzes verpflichtet würden, konnte der Investor nicht beantworten. Zunächst müsse ein „Mobilitätskonzept“ erstellt werden, so Andrea Eichholz (Sparkasse). Über Leihräder und Car-Sharing werde beispielsweise nachgedacht.

Als „Mittelweg“ bezeichnete Wixforth das Verkehrskonzept für diesen Standort, das auch für ganz Herne gelte. „Wir wollen nicht mehr die autogerechte Stadt. Wir wollen die Menschen aber nicht umerziehen, sondern Möglichkeiten eröffnen, wie es auch ohne Auto gehen kann.“ Das sei wünschenswert, aber zurzeit nicht umsetzbar, entgegnete BI-Mitglied Holger Schlautmann. Sein Sohn arbeite in Herne an der Stadtgrenze zu Bochum, benötige aber für die Anfahrt mit Bus und Bahn eine Stunde: „Wir sind längst noch nicht so weit, dass jeder Zweite aufs Auto verzichten kann.“

Die Infrastruktur

265 neue Wohnungen müssten in Herne eigentlich pro Jahr gebaut werden, um den Bedarf zu decken, berichtete Achim Wixforth. „Das schaffen wir nicht.“ Ein Hauptproblem: Es gebe im nur rund 50 Quadratkilometer kleinen Herne nicht genug Flächen. Dortmund sei zum Vergleich rund 280 Quadratkilometer groß. Der Wohnungsbedarf werde künftig sogar noch steigen. Insbesondere junge Familien auch aus anderen Städten stünden bei ihm immer wieder auf der Matte und fragten nach Wohnraum in Herne, so Wixforth.

Das geplante Wohnbaugebiet an der Reichsstraße
Das geplante Wohnbaugebiet an der Reichsstraße © Funke

Das weckte vor dem Hintergrund von aktuell mehr als 1000 fehlenden Plätzen in Herner Kitas sowie Raumnot in zahlreichen Schulen Widerspruch. Eltern müssten schon jetzt quer durch die Stadt fahren, um ihre Kinder unterzubringen, hieß es. Diese Probleme würden durch das neue Wohnquartier noch verschärft.

Den Hinweis Wixforths, dass in Herne zurzeit bereits mehrere Kitas in Bau seien sowie Schulen saniert und erweitert würden, konterte ein Anwohner mit dem Verweis auf zunehmende Engpässe beim Kita-Personal: „Es gibt auch ein Erzieherinnenproblem.“ Die Linken-Stadtverordnete und BI-Mitgründerin Klaudia Scholz erklärte, dass es beispielsweise bei der ärztlichen Versorgung ebenfalls Engpässe und lange Wartezeiten gebe. Die grundsätzliche Frage sei: „Wo will Herne hin? Sollen wir die Menschen hier künftig stapeln?“

Der Klima- und Lärmschutz

Auch vor zusätzlichen gesundheitlichen Belastungen durch Feinstaub (Verkehr) und Lärm warnte Ratsfrau Scholz. BI-Mitstreiter Schlautmann zitierte derweil aus von dem SEG beauftragten Gutachten. Demnach werde der Lärm im neuen Wohnquartier den Orientierungswert zum Teil deutlich überschreiten. Dies sei aber laut Gutachten nach Abwägung aller Interessen zu „billigen“, so der empörte Anwohner.

Die SEG verwies darauf, dass auch fürs Umfeld „gesündere Wohnverhältnisse“ entstünden, denn: Die in Randbereichen des Sportplatzgeländes ermittelten „erheblich belasteten Böden“ würden entfernt und komplett auf die Deponie gebracht. Und: Der bisherige (durch den Kunstrasen aus Plastik verursachte) hohe Versiegelungsgrad nehme durch die Bebauung sogar leicht ab. Das sei schöngerechnet worden, so ein Anwohner. Schließlich: Die SEG räumte ein, dass die nächtlichen Temperaturen auf dem Areal aufgrund der neuen Wohngebäude nicht mehr so stark sinken würden. Im Gegenzug nehme jedoch am Tag die Erhitzung durch die Entfernung des Kunstrasenplatzes ab.

Anders als in bisherigen Plänen dargestellt, soll für das Wohnviertel nun über eine nachhaltige und klimagerechte Energieversorgung nachgedacht werden, kündigte die SEG an. Denkbar sei eine Beheizung durch Erd- oder Luftwärme.

Der Blick nach Herne-Mitte

Wenn der Bedarf nach Wohnungen so groß sei: Warum werde der ehemalige Sportplatz an der Schaeferstraße in Herne-Mitte nicht mal halb so dicht bebaut wie der Platz an der Reichsstraße? Das wollte Holger Schlautmann wissen. Die städtebauliche Entwicklung müsse sich auch aus dem Umfeld ableiten, so Wixforths Antwort. Und: Bei der Bebauung sei „ein Mix“ nötig. Das Konzept für das Eickeler Grundstück sei zudem flächensparend, ressourcenschonend und nachhaltig. Ein Anwohner entgegnete, dass man dies auch „Gewinnmaximierung“ nennen könne.

Zwei Sportplätze, zwei Konzepte: An der Reichsstraße in Eickel sollen überwiegend mehrgeschossige Häuser mit insgesamt 146 Wohneinheiten entstehen, an der Schaeferstraße (Bild) dagegen nur 22 Einfamilienhäuser.
Zwei Sportplätze, zwei Konzepte: An der Reichsstraße in Eickel sollen überwiegend mehrgeschossige Häuser mit insgesamt 146 Wohneinheiten entstehen, an der Schaeferstraße (Bild) dagegen nur 22 Einfamilienhäuser. © FUNKE Foto Services | Hans Blossey

Das Verfahren

„Diese Veranstaltung hätte Jahre eher stattfinden müssen“, kritisierte eine Anwohnerin. Der kürzlich aus Essen nach Herne gewechselte SEG-Geschäftsführer Ronald Graf erklärte, dass zu jedem Verfahren eine frühe Bürgerbeteiligung und eine Offenlegung der Pläne gehörten. Das sei auch hier geschehen – im Rat, in Ausschüssen und in den Bezirksvertretungen sowie über Pressemitteilungen. „Wir tun alles, um die Termine öffentlich zu machen. Da kann man nicht besser werden“, so Graf.

So geht es weiter

Die Stadt wird nun die nach der Offenlegung der Pläne – auch von der BI – eingereichten Einwendungen bewerten. Die Ergebnisse dieser Abwägung sollen voraussichtlich im Juni dem Rat zur Entscheidung vorgelegt werden, der auch den finalen Beschluss über den Rahmen der Bebauung fassen wird. Die BI setzt darauf, dass die Politik mit Blick auf die Reichsstraße zu einem ähnlichen Ergebnis kommt wie im November 2022 bei der Vödestraße in Herne-Süd. Dort lehnten die Ratspartner SPD und CDU überraschend den Vorschlag der Stadt für eine Wohnbebauung ab und mahnten eine Überarbeitung an. Die Pläne entsprächen nicht dem heutigen Stand der Klimaanpassung, hieß es. Eine Forderung von Rot-Schwarz: mehr Grün, weniger Versiegelung.

>>> Im O-Ton: Der Alterswohnsitz, das Gemeinwohl und die Rendite

„Wir haben nicht nur in Herne das generelle Problem, dass Bürger nicht richtig eingebunden werden. Dann müssen Sie sich nicht wundern, wenn die Menschen sauer werden.“
Anwohner Julian Godjons

„Vielleicht können Sie auch mal das Gemeinwohl in den Blick nehmen. Wir alle haben Vorteile, wenn wir die Bedarfe an Wohnungen in Herne decken.“
SEG-Chef Achim Wixforth auf die Frage, was denn die Anwohnerinnen und Anwohner von der Bebauung des Sportplatzes hätten

Achim Wixforth ist Herner Fachbereichsleiter für Umwelt und Stadtplanung sowie Chef der Stadtentwicklungsgesellschaft (SEG).
Achim Wixforth ist Herner Fachbereichsleiter für Umwelt und Stadtplanung sowie Chef der Stadtentwicklungsgesellschaft (SEG). © FUNKE Foto Services | Rainer Raffalski

„Ich habe in der Bonifatiusstraße meinen Alterswohnsitz. Das ist ein kleines Zechenhaus mit etwas über 70 Quadratmetern, das ich mit meinem Sohn bewohne. Das habe ich mir als Alleinerziehende ein Leben lang erarbeiten müssen. Ich wohne hier, weil das eine ruhige Straße ist. Und jetzt wollen Sie mir das alles vermasseln?“
Anwohnerin Margita Gudjons

„Ob Sie es glauben oder nicht: Die SEG ist nicht angetreten, um Renditeerwartungen zu erfüllen. Wir setzen Stadtentwicklung nicht gleich mit Bauen.“
Achim Wixforth

„Sie wohnen in einem schönen Bungalow am Stadtrand. Ich glaube nicht, dass Sie hier einziehen wollen. Alle Leute bei der Stadt, die was zu sagen haben, würden hier nicht wohnen wollen.“
Eine Anwohnerin zu Achim Wixforth