Herne. Ein Jahr ist es her, als Russland die Ukraine überfiel. Tausende sind geflohen, auch nach Herne. Die WAZ hat mit vier Ukrainerinnen gesprochen.

Seit genau einem Jahr wütet der russische Angriffskrieg nun in der Ukraine. Millionen Menschen sind seitdem aus ihrem Heimatland geflüchtet, hunderttausende nach Deutschland, mehrere hundert auch nach Herne. Die WAZ hat mit vier Ukrainerinnen über ihre Situation und ihre Gefühle gesprochen. Für sie ist der 24. Februar 2022 der Tag, an dem für sie die Zeit stehen geblieben ist.

„Für uns gibt es keinen Frühling, Sommer, Herbst oder Winter. Für uns ist immer Februar“, sagt Tetjana Starchenko. Die Zeit ist quasi erstarrt, der Überfall am 24. Februar hat im schlimmsten Fall Leben ausgelöscht, für Menschen wie Starchenko, die aus der Millionenstadt Charkiw stammt, hat er persönliche oder berufliche Pläne ausradiert. Sie selbst, das erzählte sie bereits bei früherer Gelegenheit der WAZ, befand sich gerade auf einer Dienstreise in Brasilien, als Russland ihr Heimatland überfiel. Als sie von dem Überfall Russlands erfahren habe, sei sie gar nicht mehr in die Ukraine zurückgekehrt, sondern über Istanbul nach Herne gereist, weil hier ihre Schwägerin wohne. In Herne sei sie nur mit jenen Dingen angekommen, die sie für die Dienstreise nach Brasilien gepackt hatte. Ihren Ehemann und ihren Sohn habe sie erst im April wiedergesehen, nachdem diese ausgereist waren. Erst nachdem Charkiw wieder befreit worden war, kehrte die 41-Jährige für ein paar Tage nach Hause zurück, um in ihrem Haus nach dem Rechten zu sehen. Ja, es stehe tatsächlich immer noch, doch die Einrichtung sei geplündert worden.

„Wir machen keine Pläne mehr. Wir leben nur noch im Heute“

Pläne? „Wir machen keine Pläne mehr. Wie planen maximal von Woche zu Woche. Wir leben nur noch im Heute, weil wir nicht wissen, was morgen sein wird“, sagt Starchenko. Und: „Es ist schwer zu begreifen, dass man ein Flüchtling ist.“

Die Ukrainerin Tetjana Starchenko sagt stellvertretend für viele ihre Landsleute: „Wir machen keine Pläne mehr.“
Die Ukrainerin Tetjana Starchenko sagt stellvertretend für viele ihre Landsleute: „Wir machen keine Pläne mehr.“ © FUNKE Foto Services | Heinrich Jung

Sie selbst befindet sich in einem Schwebezustand, denn sie weiß nicht, ob ihre Zukunft in Deutschland liegen wird oder in der Ukraine. Dass alle Flüchtlinge Heimweh plagt, steht außer Frage. Auf Grund ihrer Deutschkenntnisse hat sie als eine der ersten Flüchtlinge Arbeit gefunden - beim Jobcenter. Sie möchte sich in absehbarer Zeit verändern, doch die Anerkennung ihrer Zeugnisse dauere quälend lange. Ihr Ehemann ist Handwerker, er dürfte gute Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben, wenn er Sprachkurse absolviert hat. Und ihr Sohn besucht das Emschertal-Berufskolleg. Starchenko fragt sich, in welche Richtung es geht, wenn er in Deutschland ein Studium beginnt.

Ohne Deutschkenntnisse fällt das Leben in der ungewohnten Umgebung noch schwerer

Um wie viel schwieriger die Situation ohne Deutschkenntnisse wird, offenbart sich an Nataly Ishchenko. Die 38-Jährige ist aus Odessa mit ihrem Sohn nach Herne geflüchtet. Trotz des Truppenaufmarschs Wochen zuvor sei der Überfall am 24. Februar für sie so überraschend gekommen, dass sie erst an ein Missverständnis oder an ein Manöver geglaubt habe. Sie sei zunächst ganz normal zu ihrer Arbeit gegangen. Als die ersten Raketen in Odessa eingeschlagen seien, sei sie über Rumänien nach Deutschland geflüchtet. Ihr Mann, ihr Vater und ihre Schwester seien noch in Odessa. So begleitet auch sie die tägliche Angst um ihre Liebsten.

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All dies er erzählt sie mit leiser Stimme - übersetzt von Tetjana Starchenko. Auch wenn Ishchenko Deutschkurse besucht, für eine Unterhaltung reichen die Deutschkenntnisse noch nicht. Auch Englisch kann sie nur ein paar Brocken. Deshalb fällt es ihr umso schwerer, sich in der unbekannten Umgebung - und der unbekannten Bürokratie - zurechtzufinden.

Fitnessgruppe und Austausch in Telegram-Gruppen geben Halt

Halt geben ihr Treffen mit anderen ukrainischen Frauen, zum Beispiel eine Fitnessgruppe beim Tanzpott. Dabei können sie den Krieg vergessen. Außerdem organisiert eine Gruppe Frauen kleine Flohmärkte in Herne und Dortmund. Dafür nähen und stricken sie Kleinigkeiten und verkaufen sie. Der Erlös wird für Menschen oder die Armee in der Ukraine gespendet. Daneben bieten verschiedene Telegram-Kanäle Möglichkeit zum Austausch. Doch eine echte ukrainische Community habe sich in Herne noch nicht gebildet. Immerhin: Ihr Sohn besucht ein Gymnasium und spielt beim DSC Wanne-Eickel Fußball.

Veronika Liubinets und Kateryna Tkachenko gehören zum Basketball-Bundesliga-Kader der Herner TC. Basketball helfe, nicht an den Krieg zu denken, sagen beide.
Veronika Liubinets und Kateryna Tkachenko gehören zum Basketball-Bundesliga-Kader der Herner TC. Basketball helfe, nicht an den Krieg zu denken, sagen beide. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

„Basketball hilft, den Krieg zu vergessen“

Auch Veronika Liubinets (23) aus Kiew und Kateryna Tkachenko (18) aus Odessa sind seit einigen Monaten in Herne, allerdings sind sie keine Flüchtlinge, sie gehen hier ihrer Profession nach. Beide sind im Basketball-Bundesliga-Kader des Herner TC. Als sie vor einigen Wochen in ihrer Heimat ihre Familien und Freunde besuchten, haben auch sie den Schrecken des Krieges erlebt, haben den Einschlag der Raketen gehört. „Basketball hilft, um den Krieg zu vergessen“, sagen beide im Gespräch mit der Herner WAZ-Redaktion. Sie müssen sich auf ihre Würfe konzentrieren, 170 sind es beim Training am Mittwochmorgen, sie müssen die taktischen Anweisungen der Trainer im Spiel umsetzen. Der Jubel und der Beifall der Zuschauer nach Siegen - und davon gab es in den vergangenen Wochen wieder mehr - mag ein Hochgefühl bei ihnen auslösen, doch wenn sie den Ball aus der Hand legen, kreisen ihre Gedanken und Gespräche in erster Linie um den Krieg. Selbstverständlich telefonieren sie täglich mit ihren Familien - wenn es denn in der Ukraine Strom gibt. In einigen Städten seien es nur vier Stunden pro Tag.

Wie es weitergeht, können sie noch nicht sagen. Das Leben als Basketballprofi ist ein wenig unstet. Selten bleiben sie länger als drei Jahre bei einem Verein, der Herner TC ist für Veronika Liubinets nicht die erste Station. Doch nach ihrer sportlichen Laufbahn wollen beide zurück in die Ukraine und dort leben. „Das ist unsere Heimat.“

Hoffentlich steht die Zeit dann nicht immer noch still.

>>> ETWA 1650 MENSCHEN AUS DER UKRAINE SIND IN HERNE GEMELDET

Aktuell sind etwa 1650 Ukrainerinnen und Ukrainer in Herne gemeldet. Das hat die Stadt auf Anfrage der Herner WAZ-Redaktion mitgeteilt. Die ersten Flüchtlinge seien Anfang März 2022 ungesteuert in Herne eingetroffen. Sofern sie nicht privat untergekommen seien, seien sie in den Flüchtlingsunterkünften der Stadt Herne aufgenommen worden. Ab Sommer 2022 wurden die Flüchtlinge dann kontrolliert nach dem bestehenden Aufnahmeschlüssel der Bezirksregierung Arnsberg auf die Kommunen verteilt. Die Zahlen in den Monaten Juni bis August seien zunächst rückläufig gewesen, ab September seien sie wieder angestiegen.

Stand 22. Februar leben 179 Ukrainerinnen und Ukrainer in Herner Flüchtlingsunterkünften. 420 Personen konnten seit März 2022 insgesamt aus den Flüchtlingsunterkünften in privaten Wohnraum vermittelt werden. In den Flüchtlingsunterkünften leben 66 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine.

Seit Beginn des Krieges sind durch die Lehrkräfte im Kommunalen Integrationszentrum 396 schulpflichtige aus der Ukraine geflüchtete Kinder beraten und in Schulen vermittelt worden. Davon sind 148 Mädchen und Jungen an Herner Grundschulen, 196 an weiterführende Schulen der Sekundarstufe I sowie 52 Schülerinnen und Schüler an die beiden Berufskollegs vermittelt worden.