Essen. In einer minutiösen Spurensuche dokumentiert „Das Massaker von Butscha“, wie es in der Ukraine zu Kriegsverbrechen an über 100 Zivilisten kam.

Kolja Moroz war ein „netter, hilfsbereiter Mann“, beteuert seine Frau Tania Boiki. Trotzdem wurde er verschleppt, gefoltert und hingerichtet. Seine zerschundene Leiche fand man – als nur eine von mehr als 100 toten Zivilisten, die achtlos auf der Straße oder im Garten liegengelassen worden waren –, nachdem die russische Armee ihren Kommandostützpunkt auf dem Gelände eines Kindergartens nach einem Monat Besatzung wieder räumte. Was war passiert?

Wer die Dokumentation „Das Massaker von Butscha“ (ZDFinfo, heute um 23.15 Uhr) sieht, kommt nicht umhin, nochmals mit den Bildern konfrontiert zu werden, die im April vergangenen Jahres um die Welt gingen: Butscha war der erste Beleg für offensichtliche Kriegsverbrechen der russischen Armee bei ihrem Angriff auf die Ukraine. Allerdings versucht der Film von Thomas Jennings und Annie Wong die schreckliche Wirkung zu mildern – der Abtransport der Leichen wird beispielsweise optisch durch Schwarz-Weiß-Fotos verfremdet.

Dem Horror auf der Spur

Stattdessen versucht der Film herauszufinden, was es an Beweisen braucht, um die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Und wie die Chancen dafür stehen. Tatsächlich ist Butscha nur ein Beispiel für die Horrorszenarien, die sich in der gesamten Ukraine seit einem Jahr abspielen – jenseits des alltäglichen Bombenterrors auf Krankenhäuser, Kindergärten und Stromnetze.

Schon der Angriff gilt nach Nürnberger Charta als „Verbrechen gegen den Frieden“ und somit als „illegaler Krieg“. Ebenso werden gezielte Bombardierungen ziviler Infrastruktur seit 160 Jahren als Kriegsverbrechen definiert. Doch ob ­Wladimir Putin jemals vor ein Tribunal kommen wird? Russland ist kein Vertragsstaat und kann eine Anklage vor dem Internationalen Gerichtshof per Veto verhindern.

„Das Massaker von Butscha“ als Puzzle des Grauens

Unabhängig davon können allerdings nationalen Behörden ein Gerichtsverfahren anstrengen. Deshalb ermitteln die ukrainischen Staatsanwaltschaften jeden Fall, bis Jahresende zählten sie 40.000 Kriegsverbrechen. Erika Kinetz, die der Film ein Dreivierteljahr bei ihren Recherchen begleitete, fand für Butscha und Umgebung Beweise für 600 verfolgbare Gräueltaten.

podcast-image

Wie in einem Puzzle, setzt die Journalistin von Associated Press die Fundstücke zusammen: Sie spricht mit Augenzeugen, lokalisiert minutiös, wo welche Opfer aufgefunden wurden. Sie wertet Fotos aus den sozialen Medien aus und findet „3 Terrabyte“ an öffentlichen Überwachungsvideos. Und sie entdeckte ein Muster für das „brutale Vorgehen“ der 76. Luftlande­division, die das Dorf auf ihrem Weg nach Kiew besetzte: Nur scheinbar willkürlich verhafteten die Russen die Dorfbewohner. Offenbar durchsuchten sie deren Handys nach verräterischen Bildern, um denjenigen zu finden, der den Standort ihres Waffenlagers im Wald verraten hatte. War Kolja so ein Tippgeber? Wenig wahrscheinlich. Strategisch wichtige Orte entdecken die ukrainischen Verteidiger eher per Satellit und Geolokalisation als durch „Späher“.

Bewertung: vier von fünf Sternen.