Immer wieder gibt es von Herner WAZ-Lesern die Forderung nach „bezahlbarem Wohnraum“. Doch diese ist zurzeit sehr schwer zu erfüllen.
Wenn die Herner WAZ in den vergangenen Monaten über Wohnbauprojekte berichtet hat, haben viele Leser die Frage gestellt, warum nicht bezahlbarer Wohnraum geschaffen wird. Die WAZ hat mit mehreren Experten über einige Aspekte und Schwierigkeiten beim Wohnungsneubau - und ein besonderes Herner Dilemma - gesprochen.
Im Neubau sind kaum noch Mieten unter zehn Euro möglich
Dirk Leutbecher, der in Herne seit einigen Jahren die Immobilienkonferenz veranstaltet, kennt die unterschiedlichen Faktoren, die eine Rolle spielen: Einer sei das Grundstück. Die Preise seien in den vergangenen Jahren außergewöhnlich gestiegen, ebenso andere Kosten wie Grunderwerbssteuer. Dass die Baupreise rasant gestiegen seien, komme erschwerend hinzu. Das liege nicht nur an den teureren Materialien, sondern auch daran, dass bestimmte gesetzliche Vorgaben eingehalten werden müssten - wie die Energiesparverordnung.
Folge: Im Mietwohnungsneubau könne ein Quadratmeter kaum noch unter zehn Euro angeboten werden, die Preise lägen eher bei elf oder zwölf. Für viele Menschen sei das fast unerreichbar. So komme der Vorwurf zustande, dass nur für die „Reichen“ gebaut werde. Leutbecher: „Aber die Kosten sind nun mal so hoch. Und es ist nicht abzusehen, dass die Preise sinken werden.“
Es gibt ein riesiges Interesse an Wohneigentum
Leutbecher: „Es gibt ja bezahlbaren Wohnraum. Der ist aber nicht in einer schönen Lage und nicht in einem schönen Zustand. Doch wenn keine Modernisierungen durchgeführt werden, kann man so einen Bestand am Ende nur noch abreißen.“ Hier lauere die nächste Gefahr: Wenn ein Haus abgerissen und ein neues gebaut werde, würden die Mieten über dem bisherigen Niveau liegen, was für Altmieter vielleicht schon zu hoch sein könnte.
Auf der anderen Seite registriert auch Leutbecher ein riesiges Interesse an Wohneigentum. Normalverdiener würden zwar beispielsweise auf einen Keller verzichten, um Kosten zu sparen, könnten dann aber sagen, dass sie ihr eigenes Haus haben. Dies deckt sich mit der hohen Nachfrage nach den Häusern, die die Deutsche Wohnen an der Horsthauser Straße baut. Die Nachfrage habe auch damit zu tun, dass die Kreditzinsen so niedrig seien.
Mieten sind gestiegen, sind aber im Ruhrgebietsvergleich noch unterdurchschnittlich
Diese Nachfrage nach Wohneigentum muss nach Ansicht von Leutbecher befriedigt werden. Es komme bei Wohnraum in einer Stadt auf eine Mischung an. Und dazu gehöre auch ein gewisser Anteil an Wohnraum für Normal- und Gutverdiener, der dann wieder Kaufkraft in die Stadt bringt oder dort hält und zum Beispiel die Innenstadt stützt.
Blickt man auf die Höhe der Mieten, kann nicht davon die Rede sein, dass es nur Wohnraum für Reiche gibt. HGW-Chef Thomas Bruns verweist auf den Mietspiegel. Der zeige, dass in Herne im Durchschnitt für den Quadratmeter (kalt) noch unter sechs Euro bezahlt werden. Achim Wixforth, Fachbereichsleiter Umwelt und Stadtplanung, sagt im Gespräch mit der WAZ, dass die Höhe der Mieten im Vergleich zu anderen Städten im Ruhrgebiet unterdurchschnittlich sei, doch sie hätten in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich angezogen.
Landesanalyse: In Herne werden weniger Wohnungen gebaut als es Bedarf gibt
Ein Faktor für die Steigerung von Mieten sei auch der relativ alte Wohnungsbestand in Herne, so HGW-Chef Thomas Bruns. Der geringste Teil des Herner Bestands sei nach 1990 gebaut worden. Das heißt, dass nun reihenweise renoviert werden müsse. Für die HGW nennt Bruns folgende Rechnung: In einer nicht sanierten Wohnung der 60er- oder 70er-Jahre habe der Quadratmeterpreis bei 5,60 Euro gelegen. Wenn die Wohnung auf einen Neubauzustand getrimmt werde, steige der Preis auf 7,60 Euro. Es gebe noch genug bezahlbaren Wohnraum in Herne - aber nicht im Neubau.
Wixforth weist auf ein Gutachten des Landes zum Neubaubedarf in NRW bis zum Jahr 2040 hin. Darin wird für Herne ein jährlicher Neubaubedarf von 280 bis 320 Wohneinheiten ermittelt. Herne hat aber von 2017 bis 2019 pro Jahr nur rund 160 Wohneinheiten fertiggestellt. Um den Bedarf nur halbwegs zu decken, braucht man aber entsprechende Flächen. Nach den Daten des RVR fehlen Herne mehr als 18 Hektar, um den Bedarf zu decken.
Herne nimmt für Wohnungsbau am wenigsten Flächen im RVR-Gebiet in Anspruch
Vor dem Hintergrund der Diskussionen um verschiedene Wohnbauprojekte (zum Beispiel Vödestraße) sind folgende Zahlen interessant: Laut dem Siedlungsflächenmonitoring des RVR hat Herne von 2017 bis 2019 für den Wohnungsneubau 6,4 Hektar in Anspruch genommen. Das war in der Relation zur Bevölkerung der geringste Wert aller Kommunen um RVR-Gebiet. Beim Anteil der vorgenutzten Flächen, die für den Wohnungsneubau verwendet wurden, lag Herne mit 82,8 Prozent über dem Durchschnitt von 68,6 im RVR-Gebiet.
Das offenbart das Dilemma, in dem Herne steckt: Auf der einen Seite gilt es angesichts der Aufgabe der Klimafolgenanpassung möglichst viel Grün zu erhalten, auf der anderen Seite gibt es eine große Nachfrage nach neuem Wohnraum. Wixforth erzählt, dass die Stadt regelmäßig Anfragen von Menschen bekommt, die auf der Suche nach Baugrundstücken sind. Die Stadt führe Interessentenlisten, die Nachfrage reiße nicht ab.
Einen Ausweg aus diesem Dilemma sieht Wixforth im Flächenrecycling, weil man nicht mehr in die Freiflächen gehen wolle. Dafür gebe es eine Reihe von Beispielen: Knipping-Dorn, Reichsstraße, Horsthauser Straße - oder die Nordstraße. Dort werde ein Drittel bebaut, zwei Drittel des Fußballplatzes würden in einen Park umgewandelt.
Das Instrument des sozialen Wohnungsbaus wird immer seltener genutzt
Ein Instrument, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, ist der sogenannte soziale Wohnungsbau. Doch es wird immer seltener genutzt, weil es für Investoren auf Grund der Rahmenbedingungen kaum rentabel ist. Das Land bietet für ein Darlehen einen sogenannten Tilgungsnachlass. Heißt: Ein Investor muss nicht die gesamte Darlehenssumme zurückzahlen. Dafür darf er aber nur eine Kaltmiete von 5,90 verlangen. Und das über einen langen Zeitraum.
Wenn nach bezahlbarem Wohnraum gerufen wird, geht dieser Ruf oft in Richtung Stadt. Diese Rolle übernimmt die Stadttochter Herner Gesellschaft für Wohnungsbau (HGW) - zum Beispiel am Lohofbogen in Eickel. „Wir haben uns bewusst entschieden, dort auch für jene Menschen Wohnraum anzubieten, die sich Mieten jenseits der zehn Euro nicht leisten können“, so HGW-Chef Thomas Bruns. Doch wenn man nur Sozialwohnungen baue, sei es kaum möglich, eine Rendite zu erzielen. Deshalb sei die Zahl der neu gebauten Sozialwohnungen relativ niedrig, und in den meisten Fällen hätten kommunale Unternehmen wie die HGW sie gebaut.