Herne. Die Herner GEW-Vorstände Carsten Piechnik und Ralph Stenzel üben im Samstagsinterview harte Kritik an der Schulpolitik der Landesregierung.

Einer der größten Streitpunkte im Umgang mit der Corona-Pandemie war und ist die Schulpolitik. Gerade die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Herne hat NRW-Ministerin Yvonne Gebauer deutlich kritisiert. WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann sprach mit den Vorstandsmitgliedern Carsten Piechnik und Ralph Stenzel über die aktuelle Stimmung.

Herr Stenzel, Herr Piechnik, vor wenigen Tagen haben Schulleiter in einer Umfrage NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer die Note 4 Minus gegeben. Eine gerechte Benotung aus Ihrer Sicht?

Piechnik: Viele unserer Kollegen halten eine 4 minus noch für geschönt. Das hängt zusammen mit vielen Maßnahmen und Begründungen, die von Frau Gebauer gekommen sind, die viele Lehrerinnen und Lehrer nicht für nachvollziehbar halten. Das hängt aber auch mit der Art und Weise zusammen, wie Anweisungen erteilt werden, etwa nachts um 23 Uhr, oder Schulleitungen lesen es in der Presse.

Aber die Ministerin konnte sich ja auch auf eine Ausnahmesituation wie diese Pandemie nicht vorbereiten. Kann man da nicht Nachsicht walten lassen?

Stenzel: Zu Beginn war das sicherlich so. Man hat gesehen, dass man irgendwie den Schultag rumbringt. Mittlerweile ist die Situation kalkulierbar, weil sie gleichbleibend schlecht ist, da muss man schon erwarten, dass langfristige Maßnahmen ergriffen werden. Und es ist schon entlarvend, wenn es Aussagen gibt wie: „Ich bin für die Bildung zuständig, Gesundheit ist nicht mein Ressort“. Da ist das Vertrauen aufgebraucht.

Piechnik: Die Pandemie wirkt auch wie eine Lupe, die Dinge in den Blick rückt, die vorher auch schon schlecht gewesen sind. Man hat zum Beispiel über viele Jahre Personal gespart, und jetzt können bestimmte Maßnahmen nicht ergriffen werden, weil die Leute fehlen.

Vor ein paar Tagen haben ja mehr als 100 Lehrer einen offenen Brief an die Ministerin geschickt mit drängenden Fragen. Gab es schon eine Antwort?

Piechnik: Nein, und vermutlich wird auch keine kommen. Wir haben viele Ansätze gestartet, um auf die Situation aufmerksam zu machen, um Vorschläge zu machen. Darauf gab es eher Antworten, die darauf hingewiesen haben, dass bestimmte Dinge formal und rechtlich nicht möglich sind.

Das heißt, Schulen fehlt die Gestaltungsfreiheit?

Genau.

Aber sind die Lehrer vor Ort nicht die Experten?

Stenzel: Das sollte man meinen. Und die sollten in ihren Fähigkeiten nicht unterschätzt werden. Ein Beispiel ist die Maskenpflicht . Das Ministerium hat sie zwischenzeitlich aufgehoben, und sehr viele Schulen haben sie freiwillig weitergeführt. Da sind die Kollegen mit Erfolg eigenverantwortlich tätig geworden. Das gilt auch für geteilte Klassen und Hybridunterricht. Aber den Schulen wird die Eigenverantwortung nicht zugestanden.

Blicken wir auf die Situation in Herne: Vor den Herbstferien haben Sie von einem mulmigen Gefühl angesichts des Präsenzunterrichts bei den steigenden Infektionszahlen gesprochen. Wie sehr sehen Sie sich bestätigt?

Piechnik: An den Schulen herrschen Blut, Schweiß und Tränen, ist mein Eindruck. Blut zwar nur metaphorisch, Schweiß und Tränen leider nicht. In den Lehrerzimmern fließen nicht selten Tränen. Die Leute können nicht mehr und sehen den Sinn nicht in dem, was angeordnet wird. Dann gibt es Zusammenbrüche, Traurigkeit und Wut, weil man Teil eines Systems ist, was die völlig falschen Antworten gibt und sämtliche Möglichkeiten raubt, sinnvolle Lösungen zu finden - wenn man denn anerkennt, dass es am Ende um Menschenleben geht. Auf der anderen Seite werden, koste es, was es wolle, bestimmte Abschlussformate aufrecht erhalten. Und in dieser Abwägung sind viele verzweifelt. Die Ausübung dieses Berufs wird gerade als extrem belastend wahrgenommen.

Die 7-Tage-Inzidenz sinkt seit ein paar Tagen. Spürt man das an den Herner Schulen?

Stenzel: Die aktuelle Zahl ist kein Grund zur Beruhigung. Es gibt in den Schulen eine fatale Routine. In den Pausen steht man dann doch enger zusammen, die Sache mit den Bussen funktioniert nur teilweise. Es gibt zwar entzerrte Anfangszeiten , aber mit immer noch viel zu vollen Bussen, und zu den Hauptendzeitpunkten des Unterrichts sind die Busse meist noch voller. Wir fühlen uns nicht besser, weil der Wert gesunken ist. Das System ist zurzeit unmanövrierbar, die Zahlen sind da nur Begleitwerk.

Piechnik: Es gibt eine Scheinruhe. Es sind regelmäßig bis zu 200 Kinder in Quarantäne bei Schulen mit 1000 Schülern, an Grundschulen sind teilweise von neun Klassen noch drei da. Das bringt aber auch Unruhe. Weil ständig Lehrer wegbrechen, müssen Kurse von anderen übernommen werden. Nach außen wird das plakatiert als Präsenzunterricht, innen ist Unruhe ohne Ende.

Gibt es dann nicht in der Realität schon einen Lockdown?

Piechnik: In Teilen ja, wenn zum Beispiel von 100 Lehrern 35 fehlen. Es gibt Klassen, die haben eine Stunde pro Tag den eigentlich vorgesehenen Unterricht, der Rest sind Vertretungen.

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Dennoch sagt das Ministerium, dass Schulen sichere Orte sind...

Piechnik: …es gibt aber zahlreiche Studien, die etwas völlig anderes sagen: Die Unis in Oxford und Wien haben zum Beispiel für 49 Länder in der Rückschau auf den ersten Lockdown geschaut, welche Maßnahmen welchen Einfluss auf die Entwicklung der Infektionen hatten. Die Schließung der Schulen war immer eine der top zentralen Maßnahmen, um die Zahlen zu senken. Das ist ein sehr sicherer Hinweis darauf, dass Schulen eine Hauptrolle im Ansteckungsgeschehen spielen. An einer Hamburger Schule hat man die Schüler flächendeckend getestet und hat bei 1200 Schülerinnen und Schülern 55 bisher unentdeckte Positivfälle gefunden - ein Inzidenzwert von 4583,3.

Stenzel: Das Ministerium kommt zu der Erkenntnis, dass Schulen sichere Orte sind, weil es teilweise mit zweifelhaften Zahlen operiert, zum Beispiel verwendete man in der schon relativ dramatischen Coronaphase Ende Oktober relativ lange noch niedrigere Zahlen von vor den Herbstferien. Das ist unseriös.

Piechnik: Für mich kommt noch etwas hinzu. Wir haben in Herne jetzt über 30 Tote . Und ich habe große Bedenken, dass ich dazu beigetragen habe, dass jemand gestorben ist. Für mich ist es nicht erklärbar, warum sich ein Virus in Bussen oder bei Feiern oder im Restaurant anders verhalten soll als in einer Schule mit einer definitiv bestehenden Nähe. Deshalb habe ich arge Bedenken, dass ich an etwas beteiligt bin, was Menschenleben kosten kann. Das Ministerium kommt insofern seiner Fürsorgepflicht nicht nach. Das Schlimme ist, dass das Ministerium diese Dinge gar nicht diskutiert.

Das Ministerium argumentiert immer mit der Bildungsgerechtigkeit.

Piechnik: Selbst diese halten viele Kolleginnen und Kollegen für zweifelhaft, wenn man unter den teilweise dramatischen Bedingungen, die wir gerade an Herner Schulen haben, Prüfungen unter Bedingungen durchführt, die am Ende dann wieder für alle gleich und so sein sollen „wie immer“. Die Prüfung im Land ist also für alle gleich, obwohl zuvor im Unterricht völlig unterschiedliche Bedingungen geherrscht haben. Das kann keine Bildungsgerechtigkeit sein.

Was machen diese Zustände auf längere Sicht mit Schule?

Piechnik: Ich glaube, es gibt in zwei Richtungen dauerhafte Beschädigungen. Es empfinden sich all jene ausgepresst, die versuchen, noch alles am Laufen zu halten. Viele Lehrer haben Burnout-Anzeichen und sehen keinen Sinn mehr in dem, was sie tun müssen. Noch gravierender wird die Folge sein, die wir von den Schülern gespiegelt bekommen . Diese sind zum Großteil verzweifelt. Es gibt Schlaflosigkeiten und Angstzustände. Manche sind zum dritten Mal in Quarantäne und müssen abiturrelevante Klausuren schreiben. Fünf Stunden bei offenem Fenster, eingewickelt in eine Decke. Viel schlimmer: Die Schüler verlieren Grundeinstellungen, die für eine Demokratie unerlässlich sind. Der Glaube an das Gute, der Glaube gehört zu werden und etwas wert zu sein.

>> SCHÜLER HABEN BRIEF MIT HILFERUF AN DIE OPPOSITION IM LANDTAG GESCHRIEBEN

■ Die Schülervertretung der Erich-Fried-Gesamtschule hat einen Brief an die Oppositionsparteien SPD und Grüne im NRW-Landtag geschrieben.

■ Darin äußern die Schüler eine Vielzahl an Sorgen und Fragen rund um den Umgang mit der Corona-Pandemie und die Folgen.

■ Die Schüler schreiben auch, dass sie nicht ans Schulministerium geschrieben haben, weil sie die Hoffnung verloren haben, dort Gehör zu finden.

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