Hattingen. Selbst in Notfällen sind Ärzte kaum erreichbar. Ein Hattinger Arzt verteidigt die Praxen. Dass Patienten keinen Termin bekommen, ist eingepreist.
Ärzte, die man telefonisch erreicht… die gibt’s schon seit Jahren nicht mehr, bestätigen viele Hattinger Bürger. Wenn man einen Arzt braucht geht oft schlichtweg niemand in der Praxis ans Telefon. Patienten werden deshalb erfinderisch. Ein Arzt verteidigt die langen Warteschleifen und erklärt die Gründe.
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„Man weiß gar nicht, ob man heulen oder lachen soll“, schildert Bärbel ihre Erfahrungen mit der Erreichbarkeit der Ärzte. Zu sprechen sei einfach niemand, ob Facharzt oder Hausarzt. Bei den Zahnärzten sei es noch etwas besser. Aber beim Hausarzt telefonisch jemanden zu erwischen, grenze an ein Wunder. „Die Mitarbeiterinnen lassen das Telefon klingeln und klingeln und sind mit anderen Arbeiten beschäftigt.“ Dann hat die Hattingerin einen ganz pragmatischen Tipp: „Am besten, man holt sich gleich am Anfang des Jahres bei jedem Arzt einen Termin, den hat man dann auf jeden Fall fest. Absagen kann man ja immer noch.“
Selbst Notfall-Nummer nicht erreichbar
„Ich habe sogar bei einem Notfall die immer angegebene Nummer 116117 angerufen und nur in der Telefonleitung gebaumelt“, erzählt Tanja. Diesen „Warteschleifen-Wahnsinn“ kennt auch Werner. Vor allem bei den Fachärzten sei überhaupt kein Durchkommen mehr. Dort einen Termin zu bekommen, war auch für Hannelore schlicht nicht möglich. „Da hab ich dem Arzt einfach eine Postkarte geschrieben und erklärt, dass ich die Praxis telefonisch nicht erreichen kann und einen Termin brauche. Daraufhin haben sie sich tatsächlich gemeldet.“
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Die Aussicht: Es wird eher noch viel schlechter - sagen Ärzte und Patienten. „Das hat viele Gründe, die Ärzte nicht zu verantworten haben“, sagt Dr. Jürgen Bachmann, der eine orthopädisch-schmerzmedizinische Praxis hat.
„So hat der Zulassungsausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KV) zum 1. Oktober 2020 meinem Antrag auf Fortführung der erfolgreichen Schmerztherapie nicht stattgegeben. Seit der Zeit bekommen Kassenpatienten keine Behandlung mehr erstattet zu Lasten der Gesetzlichen Krankenkassen. Also eine Praxis weniger für eine Menge Patienten.“ Die Anzahl der Praxen gründe auf einer Bedarfsplanung und bundesweit festgelegten Verhältniszahlen für die jeweiligen Facharztrichtungen, erklärt der Arzt.
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Wo keine Schlüssel festgelegt sind, ist eine fachliche Ermittlung des Versorgungsbedarfs erforderlich. Bei Schmerzmedizinern würden so beispielsweise mehrere Tausend Patienten auf einen Arzt kommen. Pro Quartal dürften diese Ärzte jeweils aber nur 300 Patienten behandeln – das sind etwa zehn Prozent aller Schmerzpatienten. „Das heißt, das 90 Prozent keine Chance haben, behandelt zu werden. Die KV weiß selbst, dass es so nicht weitergeht“, sagt Bachmann.
Wenig Ärzte für viele Patienten
Bundesweit wird das Verhältnis festgelegt, wie viele Ärzte und Fachärzte auf wie viele Patienten kommen. Das heißt zum Beispiel konkret, dass ein Hausarzt auf 1650 Einwohner kommen soll. Bei Fachärzten für Radiologie oder Anästhesie liege der Schlüssel bei knapp 1:50.000, erklärt Dr. Jürgen Bachmann.
Für spezielle Qualifikationen und Schwerpunte außerhalb der Facharztrichtungen sind allerdings keine Schlüssel festgelegt. Zum Beispiel für Palliativmedizin, Rheumatologie, Schmerzmedizin oder Naturheilkunde. „Wir gehen davon aus, dass in Deutschland über drei bis vier Millionen chronisch kranke Schmerzpatienten leben. Für Westfalen mit seinen acht Millionen Einwohnern entspricht dies 300.000 bis 400.000 Schmerzkranken, die 2020 von 107 zugelassenen Schmerzmedizinern versorgt werden sollten.“ Seit 2023 wird die ambulante Weiterbildung auch für spezielle Schmerztherapie bezuschusst. „Eine kurzfristige Besserung ist dadurch allerdings nicht gegeben.“
Immer mehr Ärzte im Rentenalter
Für die Arbeitsbelastung der Ärzte gebe es aber noch weitere Gründe. Vor allem die geforderte, überbordende Dokumentation sei erdrückend. Hinzu komme, dass die sogenannten Baby-Boomer jetzt in Rente gehen, die Praxen aber nicht mehr an Jüngere verkauft werden können, weil sich junge Ärzte die Strapazen nicht antun wollen. „Also arbeiten viele Ärzte im Rentenalter einfach weiter und investieren natürlich nicht mehr riesige Summen in die Praxis, um sie digital aufzurüsten.“
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Hinzu komme der Personalmangel: Richtig gut ausgebildete Mitarbeiterinnen finde man immer schwerer. Auch hätten viele Praxen eine strukturelle Unterdeckung: Mehr Arbeit für immer weniger Geld. „Denn die Honorarregelungen der KV bremsen die Leistungsträger. Arbeitet man zu viel, bekommt man weniger bezahlt. Dabei werden jetzt schon viele Behandlungen quartalsweise mit einer Flatrate vergütet. Andererseits werden Minuten vorgeschrieben, die eine Behandlung dauern soll. Egal, wie viel Zeit man dem Patienten widmet“, sagt Jürgen Bachmann. Bei all‘ dem Druck noch mehr Mitarbeiter ans Telefon zu setzen, sei für viele Ärzte daher nicht machbar.