Hattingen/Sprockhövel. Betrüger bei der Arbeit: Die Tochter ist in Tränen aufgelöst, Eltern sind plötzlich „völlig ferngesteuert“. Die Geschichte (m)eines Schockanrufs.
Als ich die Haustür aufschließe, klingelt das Telefon. Ich hebe ab, noch ganz in Gedanken vom letzten Termin. Danach ist nichts mehr wie vorher. Ich höre das Schluchzen meiner Tochter, die von einem schlimmen Unfall spricht.
Auf Schock-Anrufe fallen nur Senioren rein? Wer sich mit so einer Geschichte einwickeln lässt, hat doch nichts mitbekommen? Diese Vorurteile kenne auch ich - und sämtliche Warnungen. Und doch werde ich selbst zum Opfer. Völlig ferngesteuert. Das ist die Geschichte meines Schock-Anrufs:
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„Franziska“, versichere ich mich entsetzt. Eine empathische „Polizeibeamtin“ übernimmt das Gespräch, erklärt, meine Tochter habe bei einem Autounfall eine junge Frau tödlich verletzt. Sie werde jetzt psychologisch betreut, deshalb könne sie nicht mit mir sprechen. Klingt logisch, ich kenne mich in Notfallsituationen aus.
Rückruf nicht möglich: Datenschutz
Die Rufnummer im Display ist die meines Wohnortes. Doch jeder Funke Misstrauen und „gesunden Menschenverstandes“ wird im Keim erstickt. Die Vorwahl meiner Heimatstadt erkläre sich mit einer Weiterleitung aus dem zuständigen Kommissariat. Ein Rückruf, wie er in solchen Situationen von Kriminologen empfohlen wird, sei nicht möglich, erklärt man mir. Datenschutz.
Die „Polizistin“ spricht ruhig, scheint voller Mitleid und Verständnis, macht einen Datenabgleich mit mir. Ich gebe völlig panisch bereitwillig Auskunft: Name, Wohnort, Beruf meiner Tochter. Wie durch Watte erreichen mich die Informationen. Anklage wegen fahrlässiger Tötung, initiiert durch die Familie des Unfallopfers. Knast für eine engagierte Notfallmedizinerin? Kann man mit der Schuld, einen anderen Menschen getötet zu haben, weiterleben?
Gut informiert über Betrüger, aber in Trance
Meine Gefühle fahren Achterbahn, die Gedanken überschlagen sich: Eine beruflich ambitionierte Karriere am Beginn zerstört. Durch ein Unglück, eine Unachtsamkeit, womöglich? Kopfkino: Vielleicht Schlagzeilen in der Boulevardpresse. „Notärztin verletzt Radfahrerin tödlich im Rettungsdienst“. Es kann ja nicht immer nur die anderen treffen.
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Nicht einmal der Hinweis, meine Tochter sei in Untersuchungshaft und komme gegen eine Kaution frei, lassen mich aufhorchen. Noch nicht.
Ich bin zwar berufsbedingt eigentlich gut informiert, aber das ist naiv: Wie in Trance setze ich mich ins Auto, um zur Bank zu fahren. Um die Leitung zu halten, bin ich zuvor auf meiner Mobilrufnummer angerufen worden. Ich bleibe steuerbar. Die „Polizistin“ steuert mich fern wie einen Roboter. Ausnahmezustand, eigentlich dürfte ich gar nicht Autofahren.
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10.000 Euro soll ich zahlen. Ich dürfe bei der Geldabhebung den Bankangestellten keine Details erzählen. Ein bisschen unwirsch wird die „Polizistin“, als ich darüber nachdenke, die Summe nicht zusammenzukriegen. Nicht einmal die Frage nach kostbarem Schmuck, den ich sowieso nicht besitze, lässt mich wieder zu klarem Verstand kommen. Die Tatsache, dass ich wegen der Mittagspause bei der Bank vor heruntergelassenen Jalousien stehe und das auch so kommuniziere, wendet scheinbar das Blatt.
Und offenbar sinkt nach einer guten halben Stunde das Adrenalin im Blut. Fetzen von gesundem Menschenverstand gewinnen wieder die Oberhand. „Das ist aber kein Fake-Anruf“, frage ich die „Polizistin“.
Der Rückzug der ertappten Täter
Da eröffnet mir die freundliche Stimme frohe Kunde: Meine Tochter habe mithilfe ihres Anwalts – sein Name wird genannt, er habe seine Kanzlei in Köln – soeben eine Kaution hinterlegt und komme frei. Wir wollten doch jetzt lieber die Leitung freimachen, denn meine Tochter werde mich sicherlich gleich anrufen wollen, tritt die „Polizistin“ verbindlich den „geordneten Rückzug“ an. Legt auf.
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Entgegen jeder Gewohnheit, eine Notärztin im Dienst nicht anzurufen, wähle ich sofort die Rufnummer meiner Tochter und bin angesichts meines eigenen Ausnahmezustandes völlig perplex, eine fröhliche Stimme zu hören. Nein, sie habe niemanden totgefahren, und überhaupt: „Notärzte fahren gar nicht selbst, Mama“, amüsierte sich meine Tochter. „Du bist Opfer eines Fake-Anrufes geworden.“
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Nach Tagen erst bin ich fähig, den Gesprächsverlauf, die perfide sprachliche und psychologische Interaktion zu analysieren und zu reflektieren: Ich bin unfreiwilliger Teil eines „Stegreif-Theaters“ geworden, in dem sich die Gesprächspartner gegenseitig die Stichworte liefern. Ich arbeitete mit an diesem perfiden Drehbuch, lieferte durch lautes Nachdenken und meine obrigkeitsgläubig-vertrauensvolle Einstellung gegenüber der Polizei den Schurken die Stichworte und Informationen, aus denen sie eine „personalisierte“ Katastrophen-Geschichte entwickelten. Rückblickend ein unfreiwilliges Selbstexperiment, das deutlich macht, wie man Menschen „fernsteuern“ kann, wenn man nur den „richtigen“ Knopf drückt.