Hattingen. Das Haus der türkischen Familie Ü. brennt am 5. Juni 1993 in Hattingen aus. Ist es ein rechtsextremer Anschlag? Ist die Mutter verdächtig?
Hattingen macht bundesweit Schlagzeilen: In der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1993 brennt das Haus der türkischen Familie Ü. an der Unionstraße aus – eine Woche nachdem in Solingen fünf Angehörige der Familie Genç bei einem rechtsextremen Anschlag ums Leben gekommen sind. Der Hattinger Fall wirft viele Fragen auf, Antworten gibt es indes nur wenige.
Plötzlich ist an der Unionstraße alles anders als es war
Als Familienvater Yasar Ü. an diesem Samstagmorgen von seiner Nachtschicht nach Hause kommt, ist nichts mehr, wie es war: Seine Frau – auch sie heißt Yasar – erklärt, sie sei von Sohn Osman (3) geweckt worden, das Kind habe ein Feuer bemerkt. Sechs Familienmitglieder rennen raus, alle sind unverletzt. Die Mutter gibt an, dass sie im Treppenhaus einen Mann gesehen habe, den sie der Polizei beschreibt. Das Haus ist unbewohnbar.
Feuerwehr, Polizei und Stadtspitze treffen zusammen, gemeinsam beschäftigt sie – und Tausende andere – die Frage: Handelt es sich auch hier um einen Anschlag von Rechtsradikalen auf Ausländer?
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„Wir könnten alle weinen“, sagt Klaus Sager, Ausländerbeauftragter der Stadt und Vorsitzender des Vereins zur Förderung der Ausländerarbeit (VFA). Er versucht wie Bürgermeister Günter Wüllner („Es ist schlimm, dass sich diese Brutalität fortsetzt“) die angespannte Situation zu beruhigen. Ausschreitungen werden befürchtet, vor allem bei der Demo, bei der am nächsten Tag rund 2000 Menschen dabei sind. Flankiert von einem riesigen Polizeiaufgebot bleibt alles friedlich.
Der dreijährige Sohn rettet der Familie das Leben
Was aber genau ist in dieser Nacht passiert?
Klar ist nur, dass der dreijährige Sohn Brandgeruch bemerkt, seine Familie aus dem Schlaf holt und ihr damit das Leben rettet.
Die Mutter beschreibt einen Mann, den sie im Treppenhaus gesehen habe. Es werden Scherben des Badezimmer-Fensters gefunden, die auf der unteren Seite frei von Ruß sind – ein Indiz dafür, dass das Fenster vorher eingeschlagen wurde? Zudem sollen drei Jugendliche, von denen einer eine Skinhead-Frisur mit Runenzeichen haben soll, am Tatort gewesen sein. Sagt ein Zeuge, der nicht zur Familie gehört.
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Zweifel bei Polizei und Staatsanwalt
Schon bald zweifeln Polizei und Staatsanwaltschaft am Tathergang. Der Brand an der Unionstraße weicht von den rechtsextremen Anschlägen in Rostock, Mölln oder Solingen ab, sagen sie. Es gibt beispielsweise keinen Brandsatz und keinen Brandbeschleuniger. Zudem werden mehrere Brandherde im Haus gefunden.
Die Ermittler erklären zu dem „Runen-Mann“ später vor Gericht, dass sie den Kreisvorsitzenden der Rechtspartei „Die Republikaner“ angerufen hätten und der einen solchen Mann nicht kenne. Diese Aussage sei glaubwürdig gewesen. Glaubwürdiger als die Aussage des Zeugen, der „ein altbekannter Straftäter“ sei. Rechtsanwalt Wolfgang Heiermann findet dies skandalös: „Warum genießt ein Republikaner-Vorsitzender so ein Vertrauen?“
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Plötzlich gerät die Mutter in den Blickpunkt der Ermittlungen. Sie habe zurück in die Türkei gewollt, ihr Mann nicht. Die Brandstiftung soll ein Versuch gewesen sein, Tatsachen zu schaffen: Deutschland sei unsicher. Andere meinen, sie wollte Spendengelder erschleichen. Freunde und Vertraute, aber auch Beobachter der Ermittlungen glauben das alles nicht.
Die Familie wird in Welper schikaniert
Die Familie muss viel ertragen: In ihrer vorläufigen Unterkunft in Welper wird sie durch Klopfen an der Tür schikaniert und die Kinder müssen sich in der Schule Vorwürfe gegen die eigene Mutter anhören. Die Ü.s ziehen nach Duisburg. Doch auch hier bleibt es unruhig.
Buntes Bündnis: Hattingen steht auf gegen Rechts
Hattingen ist nie durch fremdenfeindliche Aktivitäten in Erscheinung getreten. Im Gegenteil: Es gab und gibt Initiativen wie den Verein zur Förderung der Ausländerarbeit (VFA), den es seit dem Jahr 2009 nicht mehr gibt.
Im Jahr 2013 wurde das Bündnis „Buntes Hattingen gegen Rechts“ gegründet, als die rechte Bewegung „Pro NRW“ in die Stadt gekommen ist, um gegen einen geplanten Moschee-Neubau in der Stadt zu demonstrieren.
Zwei Jahre später mobilisierte dieses Bündnis rund 1000 Menschen, die gegen eine Kundgebung der NPD in der Stadt protestierten. Partei- und religionsübergreifend ist dieser Schulterschluss .
Im Jahr 1996 wird Yasar Ü. schließlich von der Staatsanwaltschaft vor dem Landgericht Essen angeklagt. Nach harten Verhandlungstagen wird die Mutter aber freigesprochen – ein Erfolg für Familie und Verteidigung, die Freude ist groß. Wer den Brand gelegt hat, ist bis heute nicht ermittelt worden – eine unbefriedigende Situation!
Ende der 1990er-Jahre zieht die Familie in die Türkei. Doch auch hier wird sie nicht glücklich, weil sich die Vorwürfe herumgesprochen haben. „Unser ganzes Leben ist kaputt “, sagt der Vater zur WAZ.
Bisher sind in der Reihe der Akte Hattingen erschienen:
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