Gladbeck. In Kabul hat Kamran Schreckliches erlebt. Nach seiner Flucht lebt er in Gladbeck. Es geht ihm gut, bis auf die Angst um seine Familie

Kamran ist gerade einmal 17 Jahre jung. Was er bislang in seinem Leben schon alles ertragen musste, welche Schicksalsschläge er hinnehmen musste – kaum vorstellbar. Im Sommer 2022 ist er gemeinsam mit seinem nur wenig älteren Cousin aus Afghanistan geflohen. Seine Mutter und die vier jüngeren Geschwister musste er in Kabul zurücklassen. Für Kamran war es die einzige Möglichkeit, dem tödlichen Terror der Taliban zu entkommen. Nun lebt der 17-Jährige in Gladbeck. Hier führt er – fast – das Leben eines ganz normalen Jugendlichen. Kamran geht zur Schule, treibt viel Sport und hat auch schon einen Berufswunsch: Kfz-Mechatroniker. Der 17-Jährige könnte rundum glücklich sein, wäre da nicht die ständige Angst um seine Familie, die er in Afghanistan zurücklassen musste.

Kamrans Flucht endete im Oktober 2022 auf dem Essener Hauptbahnhof

Dass Kamrans Flucht ihn ausgerechnet nach Gladbeck führte, hat familiäre Gründe, ein Verwandter lebt hier bereits seit einiger Zeit. Für Kamran war das ein glücklicher Umstand, auch wenn er nicht bei seinem Verwandten unterkommen konnte, weil der beruflich sehr eingespannt ist. So ist Kamran aber mit der Gladbecker Flüchtlingshilfe in Kontakt gekommen und hat Andreas Schlebach kennengelernt, der sich dort seit etlichen Jahren engagiert. Der 66-jährige Gladbecker hatte zugesichert, den unbegleiteten Flüchtlingsjungen am Essener Hauptbahnhof abzuholen und nach Gladbeck zu bringen. „Das war am 13. Oktober 2022. Wir hatten beide Schilder mit unserem Namen um den Hals, und so fing alles an“, erinnert sich Schlebach und lacht. Denn aus dem „Abholen“ ist viel, viel mehr geworden. Zuerst sollte Kamran nur ein paar Tage bei Andreas Schlebach wohnen, bis ein Platz in einer Jugendwohngruppe für Flüchtlinge gefunden war. „Doch die waren alle belegt, und so ist Kamran bei mir geblieben.“

In Reile Hildebrandt-Junge-Wentrup hat Kamran aus Afghanistan eine gute Freundin gefunden. Die ehemalige Pfarrerin engagiert sich wie Andreas Schlebach in der Gladbecker Flüchtlingshilfe.
In Reile Hildebrandt-Junge-Wentrup hat Kamran aus Afghanistan eine gute Freundin gefunden. Die ehemalige Pfarrerin engagiert sich wie Andreas Schlebach in der Gladbecker Flüchtlingshilfe. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Mittlerweile ist Andreas Schlebach auch offiziell Vormund des Jungen – aber vor allem auch sein Ziehvater, der sich mit der für Väter so typischen liebevollen Strenge um alles kümmert, Hausaufgabenbetreuung inklusive. Kamran hat ein eigenes Zimmer im Hause Schlebach. Dort wohnt übrigens noch ein weiterer Flüchtling aus Afghanistan, und in der Dachgeschosswohnung des Hauses leben zwei Geflüchtete aus Guinea. „Wir sind wohl so etwas wie eine Männer-WG“, meint Andreas Schlebach.

Was der 17-Jährige aus Afghanistan sich für sein neues Leben in Gladbeck alles vorgenommen hat

Dabei kommt Kamran aber schon eine besondere Bedeutung zu. Ihm einen guten Start in Deutschland zu ermöglichen, ist Andreas Schlebach wichtig. Der 17-Jährige spricht inzwischen sehr gut Deutsch und besucht das Berufskolleg. Im kommenden Jahr steht ein Praktikum in einem Gladbecker Autohaus an. „Ich möchte testen, ob Kfz-Mechatroniker der richtige Beruf für mich ist“, sagt Kamran. An drei bis vier Nachmittagen geht der 17-Jährige zum Leichtathletik-Training. Schwimmen hat er auch gelernt, will nun unbedingt auch noch das goldene Schwimmabzeichen schaffen. Immer mittwochs jobbt der 17-Jährige zudem bei Mc Donald‘s. Das ist ihm sehr wichtig, denn seinen Lohn schickt er seiner Mutter in Afghanistan.

Schnell raus aus der Hölle der Taliban-Schule

Kamrans Mutter war es, erzählt Andreas Schlebach, die die Flucht ihres ältesten Sohnes vorangetrieben hat. Der Vater der Familie hat fürs amerikanische Militär gearbeitet. 2019 wurde er von Mitgliedern der islamistischen Taliban-Terrorgruppe umgebracht. Für Kamran begann eine schreckliche Zeit. „Durch Kamrans Familie geht ein politischer Riss. Der Bruder seines Vaters ist den Taliban zugetan“, berichtet Andreas Schlebach. So habe der Bruder nicht nur für Kamrans Mutter die Zwangsverheiratung bestimmt. Sie wehrt sich bislang aber noch dagegen. Kamran wurde in eine Taliban-Schule gesteckt. „Wir von der Flüchtlingshilfe wissen, dass in diesen Schulen mit körperlicher und auch sexueller Gewalt vorgegangen wird. Es gilt, die Jugendlichen zu brechen und auf die Seite der Taliban zu holen, bevor sie erwachsen werden.“

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Um ihren Sohn aus dieser Schulhölle zu befreien, organisierte die Mutter Kamrans Flucht, zahlte viel Geld an einen Schleuser. Schnell raus aus Afghanistan sollte Kamran. Zu Fuß, gemeinsam mit dem Cousin und einer Gruppe weiterer Flüchtlinge, gings es durch den Iran, die Türkei, über den Osten nach Mitteleuropa. Ein langer und gefährlicher Weg, vor allem auch die Route durch Bulgarien. „Auch auf der Flucht hat Kamran viel Gewalt erlebt. Doch die beiden schafften es nach Österreich. Dort wurden sie registriert. Kamrans Cousin wurde einmal zurückgeschickt. Kamran, als der Jüngere, hatte mehr Glück. Er sollte in ein Flüchtlingslager für Jugendliche in der Nähe von Wien kommen.“ Aber, so Schlebach weiter, „diese Lager sind nicht schön, dort will man nicht sein“. Kamran gelang die Flucht, er schlug sich weiter nach Deutschland durch.

In Deutschland bricht Kamran zusammen, kommt in eine Kinderklinik

In Deutschland bricht Kamran zusammen, wird als Notfall in die Kinderklinik in Erlangen gebracht. „Dort kommt er erst einige Tage später wieder zu sich. Mittlerweile wissen wir, dass Kamrans Körper mit einer Art Schockstarre reagiert, wenn die Belastung zu groß wird.“ Für den 17-Jährigen wird die Station in Erlangen zur Wendung zum Guten. Das Jugendamt dort nimmt Kontakt zu den Gladbecker Kollegen auf – und die Gladbecker Flüchtlingshilfe wird eingeschaltet. So kommt es letztendlich zu der ersten Begegnung von Kamran und Andreas Schlebach am 13. Oktober 2022 auf dem Essener Hauptbahnhof. „Wir sind dann erstmal was essen gegangen, Chicken-Nuggets.“

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Von da an nimmt Andreas Schlebach den Jugendlichen aus Afghanistan unter seine Fittiche. Gemeinsam überstehen die beiden auch die sechsstündige (!) Anhörung beim Bamf (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) im April. Mit Erfolg: Kamran ist als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling anerkannt. Das bedeutet unter anderem: Seine Mutter kann ganz legal zu ihm nach Deutschland kommen. Ob das aber auch für seine vier kleinen Geschwister gilt, steht noch nicht fest. Mit Andreas Schlebach, der sich durch sein Ehrenamt in Flüchtlingsfragen gut auskennt, hat der 17-Jährige genau den richtigen Mann an seiner Seite. „Ich werde nicht ruhen, bis Kamrans Mutter in Deutschland ist. Und dann sehen wir weiter“, sagt der 66-Jährige.

Was die Männer-WG an den Feiertagen plant

Jetzt will die ungewöhnliche Männer-WG aber ersteinmal das Jahr ausklingen lassen. Natürlich findet im Hause Schlebach nicht das übliche Weihnachtsfest statt, wohl schon eher ein Fest der Kulturen, der Gemeinschaftlichkeit, bei dem die unterschiedlichen Religionen keine Rolle spielen werden. Kamran will dabei auch eine wichtige Aufgabe übernehmen. „Man muss ja sagen, dass Hausarbeit nicht ganz so sein Ding ist, aber zu Weihnachten will er für uns kochen“, sagt Andreas Schlebach, und irgendwie klingt der Stolz auf seinen Zieh-Sohn durch. Was es geben wird? „Kabuli Palau“, verrät der 17-Jährige, „das ist ein afghanisches Reisgericht mit Lammfleisch, Karotten und Rosinen.“

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