Gladbeck. Türkischstämmige Gladbecker berichten aus der Erdbebenregion. Viele Menschen wollen helfen. Doch nicht alles, was gut gemeint ist, macht Sinn.

Bislang mehr als 19.000 Tote (Stand: Donnerstag, spätnachmittags), zig Tausende Verletzte, Städte und Dörfer, die das verheerende Erdbeben der Stärke 7,8 am 6. Februar – kurz nach 4 Uhr Ortszeit – in der türkisch-syrischen Grenzregion so gut wie von der Landkarte radiert hat. Das sind die nackten Tatsachen. Doch hinter den schon kaum begreiflichen Zahlen und Fakten stecken erschütternde Schicksale. Davon erzählen türkischstämmige Menschen in Gladbeck – und wie ihren Landleuten im Katastrophengebiet jetzt geholfen werden kann. Es sind Berichte, die unter die Haut gehen, einem in der Seele weh tun.

Schon mehr als 15.000 Tote nach Erdbeben in Türkei und Syrien geborgen

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    Müzeyyen Dreessen vom Freundeskreis Gladbeck-Alanya ist mit einer Familie befreundet, die in dem verwüsteten Riesen-Areal zu Hause ist, und erzählt: „Dort gibt es viele Hochhäuser. Erst sah es so aus, als wenn das Gebäude der sehr guten Freunde, wo sie im neunten Stock lebten, stehen bliebe. Doch dann bekam es Risse.“ Daraufhin habe sich die Familie auf den Weg in den Westen der Türkei gemacht, erst einmal in Sicherheit bringen. „Die Freunde sind körperlich unversehrt. Aber der Sohn musste seine 95-jährige Mutter aus der neunten Etage hinunter aus dem Haus tragen, weil der Aufzug nicht mehr zu benutzen war.“

    Ein Sohn gräbt mit bloßen Händen seine Eltern aus den Trümmern: Sie sind tot

    Nicht nur aus dem Freundeskreis, der sich aufgrund der Städtepartnerschaft mit dem türkischen Alanya gebildet hat, dringen Berichte von Flucht und Zerstörung nach Gladbeck. Und es sind noch schlimmere Nachrichten eingetroffen, die sogar Außenstehenden das Herz bluten lassen und Tränen in die Augen treiben. Tecer Ceylan, Vorsitzender des Kulturvereins der Aleviten, sagt: „Es gibt sehr viel Leid.“ Wie unermesslich ist der Schmerz der Familie Yildirim: „Der Sohn ist nach Gaziantep gefahren und hat mit eigenen Händen seine toten Eltern aus den Trümmern gegraben.“ Güler Wach – „unsere ehrenamtliche Geistliche“ – betrauert ebenfalls Opfer der Naturkatastrophe. In der schwer getroffenen Stadt Maraş seien zwei Nichten gestorben, weiß Ceylan.

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    Viele Vereinsmitglieder können nicht in Worte fassen, was ihnen und ihren Lieben widerfahren ist, brechen in Tränen aus – oder haben einfach angesichts der Tragik die Sprache verloren. Gülpe Falgamle versucht, die Lage im Katastrophengebiet zu beschreiben: „In meinem Freundeskreis sind zehn Menschen gestorben. Es sind auch Soldaten im Einsatz. Einige Leute fahren extra in die Türkei, aber es ist verboten, in die Siedlungen zu kommen. Wer dort ist, macht alles mit bloßen Händen. Es gibt kein Wasser, kein Brot. Unsere Freunde sind hilflos.“ Die 60-Jährige fleht geradezu: „Wir brauchen jede Hilfe!“ In der zerstörten Region sehne die Bevölkerung Unterstützung herbei. „Wir warten jeden Tag, jede Stunde – für manche Menschen wird es zu spät sein“, sagt Gülpe Falgamle, bevor sie kein Wort mehr sprechen kann.

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    Ein Mann, der ebenfalls Mitglied im alevitischen Kulturverein ist, fasst die Situation in einen Satz: „Meine Verwandtschaft wohnt in einem Dorf – da ist alles weg.“ Der 60-Jährige, der namentlich nicht genannt werden möchte, betont ebenfalls: „Wir warten auf Hilfe!“ Bisher dort, im Umkreis der Stadt Malatya, vergeblich.

    Das türkische Kahramanmaras: Diese Luftaufnahme zeigt, wie verheerend das Erdbeben gewütet hat.
    Das türkische Kahramanmaras: Diese Luftaufnahme zeigt, wie verheerend das Erdbeben gewütet hat. © dpa | Mustafa Kaya

    Von Gladbeck aus hat der alevitische Verein nicht nur Geld gespendet, sondern außerdem einen 40-Tonner mit Hilfsgütern auf den Weg in die verwüstete Region geschickt. An Bord: Kinderbekleidung in allen Größen für den Winter, Windeln, Babynahrung, Hygieneartikel. Auch wenn der gute Wille präsent sein mag, nicht jedes gespendete Teil ist sinnvoll und nützlich, so Tecer Ceylan. „Wir haben auch kaputte Kleidung bekommen.“ Und was, bitteschön, sollen Erdbebenopfer mit Stöckelschuhen und Bikinis anfangen? Einmal ganz davon abgesehen, dass in der betroffenen Region Kälte, Schnee und Eis herrschen.

    Die Autos von Menschen, die ins Katastrophengebiet fahren wollen, stauen sich. Selbst Krankenwagen kommen nicht durch.
    Die Autos von Menschen, die ins Katastrophengebiet fahren wollen, stauen sich. Selbst Krankenwagen kommen nicht durch. © M. Dreessen

    Gebrauchte Kleidung dürfe ohnehin nicht in die Türkei eingeführt werden, stellt Ceylan heraus. Die textilen Spenden müssten neu, noch mit Verkaufsetikett sein. Helfen wollen den Opfern viele Menschen in Gladbeck, das ist Müzeyyen Dreessen klar. Aber was gut gemeint ist, kommt – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht gut an in der geschlagenen Region. Manchmal erreichten Sachspenden das Ziel überhaupt nicht. Dreessen rät daher dringend von Gütern ab und verweist unter anderem auf Medien in der betroffenen Region: „Die Hilfsorganisationen und professionellen Helfer vor Ort raten dazu, Geld statt diverser Dinge zu spenden.“ Es zähle derzeit vor allem die schnelle Hilfe, heißt es zur Begründung. „Es ist einfacher, die benötigten Hilfsgüter vor Ort zu kaufen und zielgenau an die Bedürftigen zu verteilen.“

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    Ceylan stimmt Dreessen zu. Es sei schon vorgekommen, dass Transporte mit Sachspenden an der Grenze zur Türkei festgehalten worden seien. Insbesondere mahnt er: „Privatleute sollten nicht einfach losfahren!“

    Spenden für Erdbebenopfer

    Auch die Arbeiterwohlfahrt (Awo) ruft zu Spenden für die betroffenen Menschen im türkischen und syrischen Erdbebengebiet auf. Unterstützung sei angesichts der eingebrochenen Infrastruktur vor Ort, die auch die Kommunikationsinfrastruktur einschließt, und der winterlichen Temperaturen notwendig.

    Christian Bugzel, Vorsitzender des Unterbezirks Münsterland-Recklinghausen: „Unsere Hilfsorganisation ,Awo International’ steht mit Partnerorganisationen und lokalen NGOs in Kontakt und bereitet Hilfsmaßnahmen vor.“ Viele Menschen seien obdachlos geworden, haben nur die Kleidung, die sie am Körper tragen. „Sie brauchen dringend unsere Hilfe. Deshalb rufen wir zu Spenden auf“, so Bugzel.

    Wer den Appell folgen möchte: Awo International, IBAN: DE83 1002 0500 0003 2211 00; das Spendenstichwort lautet: „Erdbeben Türkei und Syrien“.

    Die Stadtverwaltung und der Freundeskreis Gladbeck-Alanya verweisen Spendenwillige auf die deutschen Organisationen „Bündnis Entwicklung hilft“ und „Aktion Deutschland hilft“. Das Spendenkonto hat die IBAN DE53 200 400 600 200 400 600 (BIC: COBADEFFXXX) unter dem Stichwort „Erdbeben Türkei und Syrien“. Weitere Informationen sind im Internet zu finden unter www.spendenkonto-nothilfe.de.

    Dreessen führt ein weiteres Argument an: „Wir als Freundeskreis haben bewusst nicht zu Sachspenden aufgerufen. Es sind schon so viele Transporte unterwegs, dass die Straßen blockiert sind. Sogar Krankenwagen und Konvois stehen im Stau und kommen nicht mehr durch.“ So setzten sich beispielsweise aus allen Teilen der Türkei Menschen ans Steuer. Allein aus Gladbecks Partnerstadt Alanya, ungefähr 600 Kilometer entfernt von den beinahe ausgelöschten Landstrichen, seien bisher 34 Lkw mit Hilfsgütern gestartet. Die serpentinenreiche Strecke ins Katastrophengebiet sei streckenweise nur einspurig befahrbar, „es ist sehr gebirgig in der Region“.

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    Akin Takin, Vorsitzender des Gladbecker Integrationsrates, fordert auf: „Nun sind Solidarität und schnelle Hilfe gefragt. Es ist unsere Pflicht, den Menschen in diesen schwierigen Zeiten zur Seite zu stehen.“ Der Integrationsrat bittet darum, Geld zu spenden. Damit „können wir die Organisationen vor Ort unterstützen und auch unsere Solidarität zeigen.“

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