Gladbeck. Viele Ukrainer in Gladbeck folgen dem orthodoxen Glauben. Bei ihnen beginnt nun das Weihnachtsfest. Wie es sich anfühlt, jetzt zu feiern.

Derweil in Familien aus evangelischen wie katholischen Gladbecker Gemeinden die Weihnachtsbäume schon wieder aus den Stuben verschwinden, wird bei Familie Ternovyi die Tanne im Wohnzimmer erst jetzt mit den Kindern schön geschmückt. Der Grund ist schnell erklärt. Die fünf Neu-Gladbecker sind aus der Ukraine geflüchtet. Sie gehören der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche an, die am 6. Januar Heilig Abend feiert. Ihr Weihnachtsfest besteht aus einem Zyklus mit drei Höhepunkten, darunter einem zweiten Heiligabend. Dabei gibt es viele interessante Besonderheiten, die auch tradierte Bräuche betreffen. Sie haben ihren Ursprung in heidnisch-slawischer Mythologie.

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„Warum wir am 6. Januar Weihnachten feiern, das wissen ja viele“, erklärt Ruslan Ternovyi (40), „das liegt am julianischen Kalender, der weiter für die Orthodoxe Kirche zählt, die nicht den gregorianischen Kalender übernommen hat.“ Der Familienvater erhält Übersetzungshilfe durch seinen Freund und ehemaligen Kiewer Nachbarn Roman Jawdoschina, der gut Deutsch spricht und mit seiner Familie ebenfalls vor dem Krieg nach Gladbeck flüchtete. Letzterer erzählt, dass seine Familie, wie es viele westlicher gelegene Gemeinden in der Ukraine jetzt praktizierten, „Weihnachten am 25. Dezember gefeiert hat, der seit 2017 auch gesetzlicher Feiertag ist“.

Große Geschenke liegen an Heiligabend nicht unter dem Christbaum

Anders als in Deutschland liegen große Weihnachtsgeschenke aber nicht am Heiligen Abend unter dem Christbaum. „Beschenkt wird am Nikolaustag oder am 31. Dezember“, erzählt Ruslan. Denn das Fest des Heiligen Nikolaus’ (Mykola), nach orthodoxem Kalender am 19. Dezember, sei traditionell der christliche Geschenktag in der Ukraine. Mit der Oktoberrevolution und der Ausbreitung des Kommunismus’ habe die Sowjetunion aber das religiöse Weihnachtsfest verboten und stattdessen (ab 1937) das Jolkafest eingeführt. „Dies gestattete, an Silvester einen Neujahrsbaum aufzustellen und sich zu beschenken.“ Gleichwohl habe sich der Nikolausbrauch in der Ukraine erhalten, so die weitere Erklärung zur doppelten Geschenkoption.

Das wichtigste religiöse Datum sei aber der 6. Januar, an dem die Geburt Christi (wie gesagt ohne Geschenke) gefeiert werde. Der Heiligabend vor Weihnachten sei ein Familienfest, an dem so viele nahe Verwandte wie möglich zusammenkommen, um gemeinsam das große Ereignis zu feiern. Mutter Olha (36) erzählt, dass die Frauen dann im Vorfeld viel zu tun haben, „da zwölf Fastenspeisen zubereitet werden, die an die Anzahl der zwölf Jünger Christi erinnern“. Ruslan zeigt ein Foto von der Friedensweihnacht 2021, das bei seinen Eltern in Ternopil mit Geschwistern gefeiert wurde. Gerade jetzt denke man besonders an die Lieben, die alle in der Ukraine geblieben sind.

Beim Festessen werden zwölf Speisen aufgetischt, die an die Jünger Jesu erinnern

Festessen am Heiligen Abend 2021 kurz vor Ausbruch des Krieges: Die gesamte Familie trägt ukrainische Festtracht und freut sich auf die zwölf traditionell aufgetischten Speisen.
Festessen am Heiligen Abend 2021 kurz vor Ausbruch des Krieges: Die gesamte Familie trägt ukrainische Festtracht und freut sich auf die zwölf traditionell aufgetischten Speisen. © Ternovyi | NN

Auf dem Erinnerungsfoto sind gut die unterschiedlichen Speisen zu sehen. Auf den Tisch kommen zum Beispiel Wareniki-Teigtaschen, Krapfen oder verschiedene Salate, gerne mit Roter Bete. Da die vorweihnachtliche Fastenzeit noch nicht beendet sei, „ist es ganz wichtig dass alle Gerichte vegetarisch sind, und auch Alkohol wird nicht getrunken“, sagt Olha. Das wichtigste Gericht, „das nie fehlen darf“, sei aber Kutja, eine nahrhafte Süßspeise aus gekochten Weizenkörnern und eingeweichten Mohnkörnern, die weiter mit Nüssen, Rosinen und Honig zubereitet werde. Das älteste anwesende Familienmitglied eröffnet das Festessen mit dem erste Löffel Kutja. Und erst nachdem alle anderen von der Speise probiert haben, dürfen die weiteren Gerichte gegessen werden. „An die vier Tischecken wird auch Knoblauch gelegt“, ergänzt Ruslan, als Symbol „für den Zusammenhalt und für eine gute Gesundheit der Familie“.

Am ersten Weihnachtstag (7. Januar) ist die Fastenzeit vorbei, es darf wieder Fleischhaltiges aufgetischt und Alkohol getrunken werden. Ein wichtiger und schöner Brauch sei dann zunächst das Singen von Koljaduwaty (Weihnachtsliedern), das neben dem Gotteslob auch für Glück und Wohlstand der Familie bedeutend sei. „Die Kinder gehen dann am zweiten Weihnachtstag auch in Gruppen von Haus zu Haus, teils verkleidet als Engel, Sternsinger oder ähnliches, singen Lieder und erhalten Süßigkeiten und Geld. „Kaum jemand hier weiß“, sagt Roman, „dass der populäre Carol of the Bells vom traditionellen ukrainischen Weihnachtslied Schtschedrik abstammt.“

Der ukrainische Weihnachtszyklus endet mit dem Tag des heiligen Wassers

Das traditionelle ukrainische Weihnachtsfest ist mit viel Symbolik aufgeladen. Zwei Ukainerinnen mit dem Ährenstrauß Diduch (links, symbolisiert den Geist der Vorfahren), der Weihnachtsspeise Kutja aus Weizen mit Nüssen und dem Geträk Uswar aus Trockenfrüchten.
Das traditionelle ukrainische Weihnachtsfest ist mit viel Symbolik aufgeladen. Zwei Ukainerinnen mit dem Ährenstrauß Diduch (links, symbolisiert den Geist der Vorfahren), der Weihnachtsspeise Kutja aus Weizen mit Nüssen und dem Geträk Uswar aus Trockenfrüchten. © epd | Ralf Moray

Durch die kalendarische Verschiebung findet das orthodoxe-julianische Neujahr am 14. Januar statt, das so auch als „Altes neues Jahr“ bezeichnet wird. Am Vorabend wird der „Schtschedry wetschir“ der „freigiebige Abend“ begangen. „Ein weiterer Höhepunkt und zweiter Heiligabend im Weihnachtszyklus“, erklärt Roman, bei dem kräftig und großzügig aufgetischt und mit der Familie getafelt werde. Auch zum Gedenken an die slawische Volksheilige Milana (Melanka). Am Morgen streut ein Junge Weizen im Haus aus, der Wohlstand bringen soll, und junge Frauen und Mädchen ziehen am Nachmittag in floralen Trachten oder verkleidet als Bienen oder Schafe von Haus zu Haus, singen für eine gute Ernte Schtschedry-wetschir-Lieder und erhalten Süßigkeiten und Geld.

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Der Weihnachtszyklus ende dann mit dem Tag des heiligen Wassers (Dreikönigstag), dem Wechsel vom 18. auf den 19. Januar. „Die Gläubigen tragen Flaschen mit Wasser in den Gottesdienst, das dann vom Priester geweiht und von den Menschen heimgetragen wird“, so Ruslan. In kleinen Schlucken werde es von einigen über das ganze Jahr getrunken. „Meine Großmutter war fest davon überzeugt, dass es mir mit besonderen Heilkräften auch bei Krankheiten hilft“, erzählt Roman. Religiös an die Taufe Jesu im Jordan (Epiphanie) erinnernd, wird das traditionelle Eisbaden in Flüssen oder Seen dann am 19. Januar auch zum fröhlichen Vergnügen der ganzen Gemeinde. Mindestens drei Mal muss der Kopf dabei untergetaucht werden, um alte Sünden abzuspülen.

Der Wunsch nach Frieden beinhaltet den Sieg über Russland und das Putin-Regime

Ein Wohngebäude im Herzen der ukrainischen Hauptstadt Kiew wurde von einer Rakete getroffen. Auch in der Weihnachtszeit hat der Beschuss durch russische Streitkräfte angehalten, so das weiter Zivilisten gestorben sind (Archivbild).
Ein Wohngebäude im Herzen der ukrainischen Hauptstadt Kiew wurde von einer Rakete getroffen. Auch in der Weihnachtszeit hat der Beschuss durch russische Streitkräfte angehalten, so das weiter Zivilisten gestorben sind (Archivbild). © dpa | Andrew Kravchenko

Ob zum Weihnachtsfest fern der Heimat nicht der Wunsch nach Frieden in der Ukraine besonders groß sei? „Ja“, sagen Ruslan und Roman, „aber welchen Frieden meinst du?“ Denn sie stellen klar, dass sie der selben Meinung seien wie laut einer Umfrage 87 Prozent der Ukrainer: „Wir wollen einen Waffenstillstand aber nur nach einem klaren Sieg und der Befreiung des gesamten Territoriums der Ukraine.“ Denn nur der böte Chancen für einen verlässlicheren Frieden: „Wenn damit auch das Putin-Regime endet“ und so größere Sicherheit besteht, „dass die großrussischen Pläne mit Überfall auf Nachbarländer in Zukunft nicht weiter verfolgt werden“.

Beide sagen, dass sie und ihre Familien sehr dankbar sind, in Gladbeck als Flüchtlinge willkommen gewesen zu sein. Sie hoffen auf Solidarität, dass weitere Landsleute aufgenommen werden, die fliehen müssten, „weil durch zerstörte Infrastruktur in ihren Wohnungen und Häusern kein Trinkwasser mehr fließt, Strom und Heizung im Winter nicht funktionieren“. Viele wollten ja wieder zurückkehren, sobald es möglich sei. Mit welchem Risiko das verbunden sein kann, berichtet Roman leise. „Eine uns bekannte junge Familie ist im Oktober aus Gladbeck in die Ukraine zurückgekehrt, dann wurde ihre Wohnung von einer Rakete getroffen – nur die Mutter hat überlebt.“