Gladbeck. In Rentfort-Nord wurde ein neuer Stadtteil auf der grünen Wiese entwickelt. 1961 kam Siemens nach Gladbeck. Alle fünf Zechen machten dicht.

Die 60er Jahre bescherten Gladbeck die Kohlekrise und das Zechensterben. Sie brachten auf der anderen Seite aber auch eine nicht gekannte Dynamik in der Stadtentwicklung. Die Stadtväter jener Jahre träumten sogar von der Großstadt Gladbeck mit bis zu 120.000 Einwohnern, stellten politische und planungsrechtliche Weichen, um „unsere Stadt der Zukunft“ zu entwickeln.

Antrieb verlieh der Politik ein wirtschaftspolitischer Coup: 1961 kam die Weltfirma Siemens in die Stadt und baute auf einem von der Stadt gekauften Grundstück an der Bottroper Straße/Möllerstraße ein großes Werk – die zweitgrößte Industrieansiedlung im Ruhrgebiet in den 60er Jahren nach dem Opel-Werk in Bochum. 4800 Menschen sollten im Gladbecker Siemenswerk arbeiten, maximal 4500 sollte der Höchststand in den 70er Jahren sein.

1961 kommt die Weltfirma Siemens mit vielen Jobs nach Gladbeck

Das war ein Coup: 1961 kam die Weltfirma Siemens nach Gladbeck und baute ein riesiges Werk, in dem 4800 Menschen arbeiten sollten.
Das war ein Coup: 1961 kam die Weltfirma Siemens nach Gladbeck und baute ein riesiges Werk, in dem 4800 Menschen arbeiten sollten. © WAZ | mendel

Angesichts der zunehmenden Schwierigkeiten im Bergbau, wo immer noch die meisten Gladbecker arbeiteten, war das Werk ein wichtiger Baustein für den Strukturwandel. Nach dem Aus der Zeche Scholven 1963 wurde schon 1965 die Förderung auf Stinnes 3/4 eingestellt, 1967 wurde auch die Kokerei stillgelegt. Im November 1966 fasste die Hibernia den Beschluss, dass auch die Möllerschächte zum 1. April 1967 dicht machen mussten. Und schließlich verließ am 12. November 1971 der letzte Waggon Steinkohle die Zeche Graf Moltke 3 /4. Innerhalb von 13 Jahren waren mehr als 14.000 Arbeitsplätze verloren gegangen.

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Mit „Leitplänen“ rüstete die Politik sich zur Weiterentwicklung der Stadt: In Rentfort-Nord wurde – abgesehen von der Lohstraße – auf der grünen Wiese ein neuer Stadtteil für mehr als 10.000 Menschen entwickelt. 1963 begann die Planung, Baubeginn war 1965. Parallel wurde 1966/67 die Europabrücke als Ersatz für die alte Rentforter Straße, die unterhalb der Bahngleise verlief, als 268 Meter lange Spannbetonbrücke gebaut. Sie führte im leichten Bogen bis zu zehn Meter hoch über die Bahngleise am Bahnhof West und die Möllerstraße – ein imposantes Bauwerk für die damalige Zeit. Am südlichen Fuß entstand 1968 das Heisenberg-Gymnasium mit der zu jener Zeit eindrucksvollen Dreifachturnhalle. Übrigens sahen die „Leitpläne“ auch Trabantenstadtteile in Butendorf für 22.000 Einwohner (zwischen den beiden Ecktürmen, die realisiert wurden: Möbelparadies und Wohnkomplex Steinstraße) und auf dem Feld zwischen Konrad-Adenauer-Allee und Zweckel mit Wohnraum für 20.000 Menschen vor.

Anfang der 60er Jahre entsteht der Rathauspark

As Luftbild von 1960 zeigt neben dem Rathaus die Viktoriastraße, das Lyzeum ist nicht mehr zu sehen (im Krieg zerstört). Dort, wo das ev. Bethaus stand, ist ein kleiner Parkplatz. Unten das alte Bankhaus Küster und Ullrich, daneben die Villa des Zahnarztes Lothar Hoppe. Wo vormals die Turnhalle des Lyzeums stand, ist der Neubau der Stadtbücherei zu erkennen. Links daneben liegt die Gustavstraße.
As Luftbild von 1960 zeigt neben dem Rathaus die Viktoriastraße, das Lyzeum ist nicht mehr zu sehen (im Krieg zerstört). Dort, wo das ev. Bethaus stand, ist ein kleiner Parkplatz. Unten das alte Bankhaus Küster und Ullrich, daneben die Villa des Zahnarztes Lothar Hoppe. Wo vormals die Turnhalle des Lyzeums stand, ist der Neubau der Stadtbücherei zu erkennen. Links daneben liegt die Gustavstraße. © WAZ | Stadtarchiv

Zu Beginn der 60er Jahren hatte sich die Stadtentwicklung zunächst auf die Umstrukturierung des Bereichs unmittelbar am Rathaus konzentriert – es entstand der heutige Rathauspark. Zwei Straßen, die Viktoria- und die Gustavstraße, verschwanden. Die Viktoriastraße lag direkt neben dem Rathaus und verband die Bottroper Straße mit der Friedrichstraße. Hier waren schon die Reste des im Krieg schwer beschädigten Lyzeums und des einstigen, ebenfalls schwer zerstörten evangelischen Gebetshauses abgerissen worden. Das Bankhaus Küster und Ullrich, das sich auch an der Viktoriastraße befand, wurde noch von der Stadtverwaltung genutzt für die Stadtkasse. Neben dem Rathaus existierte zunächst ein Parkplatz, Ende der 60er Jahre begann hier der Bau der beiden Verwaltungstürme der Stadt.

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Das Bankhaus und die benachbarte Arztvilla Hoppe wichen Mitte der 60er Jahre dem Rathausparkplatz und 1963 dem Sparkassen-Neubau, für den auch ein Teil der alten Lambertistraße aufgegeben wurde. Die Gustavstraße, an der die einstige Lutherschule stand (in der nach dem Krieg die Realschule ansässig war), verlief parallel wenige Meter weiter westlich zur Viktoriastraße – etwa dort, wo heute der Weg am Hallenbad vorbeigeht. Die Gustavstraße verschwand 1966. Dort wurde 1967 das heutige Hallenbad eröffnet. 1963 war bereits – zum 50-jährigen Geburtstag des SV 13 – das Freibad umgebaut. Zur Eröffnung fanden dort Deutsche Schwimmmeisterschaften statt.

Ab 1964 baut die Vestische das Straßenbahnnetz zurück

Heute kaum noch vorstellbar: Eine Straßenbahn der Linie 23 fährt in den 60ern von der Hoch- in die Horster Straße (heute Europaplatz.
Heute kaum noch vorstellbar: Eine Straßenbahn der Linie 23 fährt in den 60ern von der Hoch- in die Horster Straße (heute Europaplatz. © WAZ | Repro: Ulla Michels

Mitte der 60er Jahre änderte sich einiges im Gladbecker Straßenbahnnetz: Ab November 1964 fuhr die Linie 17 nicht mehr nach Rentfort und Kirchhellen. Im August 1965 wurde der Linienverkehr der 23 nach Schultendorf/Zweckel eingestellt, die Gleise in der Rentforter Straße wurden abgebunden und blieben noch einige Jahr dort liegen – beides Maßnahmen, die im Zusammenhang mit dem Bau der Europabrücke standen.

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Die 23 fuhr zunächst noch von Gladbeck/Rathaus gemeinsam mit der 17 nach Horst und weiter nach Bottrop. Aber im April 1968 wurde die 23 ganz eingestellt, zu Gunsten eines 15-Minuten-Taktes der Linie 17. Zum gleichen Zeitpunkt (1968) verschwand die Linie 11 aus dem Stadtbild. Die Linie 10 fuhr weiterhin von Gladbeck nach Bottrop. 1968 wurde die 17 zu einer Ringlinie: Gladbeck, Horst, Bottrop, Gladbeck (Fahrtzeit: 74 Minuten). Die Linie 10 bediente parallel die Strecke Bottrop-Eigen-Gladbeck und rollte als eigenständige Linie ab Gladbeck-Mitte wie gewohnt in Richtung Buer weiter.

Hans Wuwer und Günter Kalinowski sind die OB der 60er Jahre

Ein Blick Anfang der 60er Jahre von Süden auf den Marktplatz.
Ein Blick Anfang der 60er Jahre von Süden auf den Marktplatz. © WAZ | Repro: Ulla Michels

In den Stadtteilen wurden in den 60er Jahren noch einmal Kirchenneubauten eingeweiht: 1961 die katholische St.-Elisabeth-Kirche in Ellinghorst, 1962 die evangelische Lukaskirche mit Gemeindezentrum in Butendorf, 1966 die Versöhnungskirche in Brauck-Süd, 1967 die Petruskirche auf dem Rosenhügel, 1968 die Markuskirche in Gladbeck-Ost.

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Politisch klärten sich bei der Kommunalwahl 1964 die Verhältnisse: Die SPD errang wieder – wie vor der der Abspaltung der UWG um OB Heinrich Kliem – 24, die CDU 18 Ratssitze. Hans Wuwer (SPD) löste schon 1963 Kliem als OB ab. Nachdem Wuwer 1965 Bundestagsabgeordneter wurde und damit Nachfolger für Johann Harnischfeger (CDU), der zwölf Jahre für Gladbeck/Bottrop MdB in Bonn war, rückte Günter Kalinowski (SPD) ins OB-Amt auf. Der wiederum musste nach einer Grundstücksaffäre 1971 zurücktreten – und der junge Norbert Aust kam ins Amt. Längst dominierte die kommunale Neugliederung die politische Debatte und sollte für unruhige Zeiten in Gladbeck sorgen.

Die ersten Gastarbeiter kommen

Zu Beginn der 60er Jahre kamen die ersten Gastarbeiter nach Gladbeck. Auf Stinnes 3/4 legten Süditaliener und Sizilianer an. Von nun an gehörte der Zuzug von Arbeitskräften aus dem Ausland zur stadtgesellschaftlichen Entwicklung. Nach den Italienern kamen Spanier und Marokkaner, 1962 die erste Gruppe türkischer Bergleute.

Die Gladbecker Sportfamilie knüpfte in den 50er und 60er Jahren an die sportlichen Erfolge der Nachkriegszeit an und begründete Gladbecks Ruf als Sportstadt – vor allem im Schwimmen und in der Leichtathletik. Neue Sporthallen, das neue Hallenbad und das umgebaute Freibad verbesserten enorm die Trainingsmöglichkeiten.

Kulturell blühte Gladbeck schon in den 50er Jahren durch die neue Schauburg an der Hochstraße (heute dm-Markt) auf, das vom Kulturbund auch für Theater-Aufführungen genutzt wurde. Im Café Siebeck an der Hochstraße (heute Punktapotheke) fanden Lesungen statt, im Hotel Koopmann (Horster Straße) traf sich überörtliche Prominenz.

100(0) Jahre Gladbeck: Bisherige Folgen in der Übersicht

In 2019 wird die Stadt Gladbeck 100 Jahre alt. Anlass für uns, die Geschichte Gladbecks, die vor 1000 Jahren begann, in Serie darzustellen. Quellen sind die Bücher „Geschichte der Stadt Gladbeck“ von Rainer Weichelt, „Gladbeck“ von Harald Neumann, „Verdrängte Jahre – Gladbeck unterm Hakenkreuz“ von Frank Bajohr, „Feuersturm an der Ruhr“ aus dem Klartext-Verlag, die Dokumentation „Glabotki ist nicht!“ von Erna-Johanna Fiebig und Rainer Weichelt, die Chronik „40 Jahre Amt Gladbeck“ von Ludwig Bette (von 1925), Expertisen aus dem Stadtarchiv sowie verschiedene Aufsätze von Heimatforschern.

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