Gelsenkirchen. .

Der gesellschaftliche Wandel geht weiter. Eine der neuen Herausforderungen, der sich auch die Stadt Gelsenkirchen stellt, trägt den sperrigen Namen Inklusion. Mit Dr. Wilfried Reckert, dem städtischen Senioren- und Behindertenbeauftragten, hat die Stadt seit 2005 einen ausgewiesenen Experten im großen Bereich der integrativen Entwicklung. Der Masterplan Senioren trägt zum Beispiel seine Handschrift. Im Gespräch mit WAZ-Redakteurin Inge Ansahl erzählte Reckert, was Inklusion für ihn bedeutet und wie er das Thema anpackt.

Herr Dr. Reckert, was bedeutet Inklusion für Sie?

Dr. Wilfried Reckert: Ich verbinde mit diesem Begriff, dass endlich anerkannt wird: Behinderung ist kein Problem der Menschen mit einem Handicap, sondern vielmehr ein gesellschaftliches Phänomen. Anders formuliert: Menschen sind nicht behindert, sondern Menschen werden behindert. Inklusion bedeutet, dass Behinderte am gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt teilhaben können.

Das setzt aber doch ein grundsätzliches Umdenken aller voraus?

Reckert: Ich ziehe bei diesem Thema gern einen Vergleich. Die gängigste Prothese, die wir mit uns herum schleppen, ist das Auto. Es ist uns in annähernd 100 Jahren gelungen, ganze Städte für die Nutzung dieser Prothesen umzubauen. Daran sieht man doch: Es geht! Die ersten Bordsteinabsenkungen gab es übrigens nicht für Rollstuhlfahrer. Die wurden für Autos gemacht, damit sie besser in die Garagen kommen.

Inklusion zu realisieren wird also ein langer Prozess?

Reckert: Ganz sicher. Aber man braucht Visionen, um etwas Neues anzugehen und dafür Kreativität zu entfalten. Ein Gemeinwesen, das tatsächlich alle Menschen entsprechend ihrer unterschiedlichen Möglichkeiten als gleichberechtigt einschließt, das hat schon etwas Großes.

Was schätzen Sie, wie lange wird das dauern?

Reckert: Ich wäre froh, wenn ich eine Prognose abgeben könnte. Zurzeit sehe ich aber vielmehr die Ausgrenzungsprozesse.

Dabei fängt die Integration doch wohl grundsätzlich nach der Geburt an?

Reckert: Ja. Aber da fängt eben auch das Selektieren in die unterschiedlichen Gruppen an. Fremdheitsgefühle und Angst vor dem Fremden sind bei uns sehr ausgeprägt. Es muss erfahrbar gemacht werden, dass gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben geht und dass das gut ist.

Inklusion wird in vielen Städten immer noch reduziert auf den Bereich Schule diskutiert. Wie sehen Sie das?

Reckert: Grundsätzlich fällt mir dazu ein, dass wir gerade im Schulbereich eine unselige Selektion haben. Und in dieses hoch selektive System hauen wir jetzt mit Inklusion ‘rein. Wenn wir die Erfahrungen mit Integration in Schulen hätten wie andere europäische Länder, dann wären wir schlauer.

Sind wir aber nicht Meister in der Projekt-Liga?

Reckert: Ich wünsche mir die inklusive Gesellschaft ohne Projekte. Als Dauerzustand. Das wäre absolut klasse. Aber dafür müssen wir natürlich Ermöglichungsstrukturen schaffen, damit sich gesellschaftliches Engagement auch entfalten kann. Eine inklusive Stadtgesellschaft braucht solche Strukturen. Das ist eine kommunale Aufgabe.

Auf Sie kommen also große Aufgaben zu. Wo fangen Sie an?

Reckert: Wir haben bereits angefangen mit dem, was man in so einer Situation macht: Wir haben uns mit der Arbeitsgemeinschaft der Behinderten-Verbände zusammengesetzt und beschlossen, zunächst eine Bestandsaufnahme zu machen. Wir haben in Gelsenkirchen schon etwas erreicht, weil bei uns die Betroffenen mit am Tisch sitzen.

Die, die das Thema Inklusion betrifft, sind immer als Experten dabei. Daraus ergibt sich eine selbstverständliche Einflussnahme. Insofern ist das, was in Gelsenkirchen für Behinderte bereits geschaffen wurde, ihr Erfolg. Wir haben die Zusammenarbeit verschiedener städtischer Dienststellen, der Eigenbetriebe und der Agentur für Arbeit verabredet. Und wir müssen die Netze auswerfen, um noch mehr Partnerinnen und Partner aus Einrichtungen, aus Kultur, Wirtschaft und Bürgerschaft zu finden, die das Thema Inklusion voranbringen.

Wo gibt es aus Ihrer Sicht ein deutliches Manko?

Reckert: In den Bereichen, wo es Ghettos und Asyle gibt. Sonder- beziehungsweise Förderschulen, Heime oder Behindertenwerkstätten machen die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen ganz offensichtlich. Die Arbeit, die dort geleistet wird, darf man aber keinesfalls schlecht reden. Im Gegenteil. An der Löchterschule erlebt man beispielsweise ein ganz wunderbares Lernklima. Wenn wir Inklusion anstreben, dann darf es nicht wieder zu einer Überreglementierung kommen.

Wie geht es denn nach der Bestandsaufnahme der Arbeitsgruppe Inklusion weiter?

Reckert: Die Bestandsaufnahme soll bis Ende Juli fertig sein. Wir wollen dann dem Beirat für Menschen mit Behinderungen die Bilanz vorlegen. Ich hoffe, dass sich daraus die Ausgangsdaten für einen Masterplan Inklusion ergeben.

Wer trägt denn eigentlich die Kosten für die Umsetzung von Inklusion?

Reckert: Wir hoffen ja auf das Konnexitätsprinzip, wonach derjenige, der bestellt, auch bezahlt. Vordringlich müssen wir aber wohl sehen, wie wir erst einmal selber klar kommen. Um mal das alte Arbeiterlied zu bemühen: ,Uns aus dem Elend zu erheben, müssen wir schon selber tun’.