Gelsenkirchen. Wie viele Rumänen und Bulgaren sind in zehn Jahren nach Gelsenkirchen gekommen? Wie viele arbeiten, wer bekommt Bürgergeld? Der große Überblick.

Der EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens im Jahr 2007, spätestens jedoch die vollständige Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bürger beider Staaten im Jahr 2014 hat die Gelsenkirchener Stadtgesellschaft spürbar verändert – das wird insbesondere mit Blick auf die Zahlen deutlich: Der Anteil der bulgarischen und rumänischen Staatsbürger an der Gesamtbevölkerung in Gelsenkirchen lag vor zehn Jahren noch bei 1,4 Prozent, mittlerweile liegt er bei über 4,5 Prozent. In absoluten Zahlen sind das 12.162 Menschen– 7448 Rumänen und 4714 Bulgaren (Stichtag 31. Dezember 2023). Das geht aus Statistiken hervor, welche die Stadt anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf WAZ-Nachfrage aufbereitet hat.

Schaut man nur auf die Jüngsten, so ist der Anteil noch wesentlich größer: Schülerinnen und Schüler mit rumänischer oder bulgarischer Staatsangehörigkeit haben einen 8,5-prozentigen Anteil an der Gesamtschülerschaft. Blickt man zudem auf die künftigen Schülerinnen und Schüler, also auf die Kinder, die aktuell zwischen drei und sechs Jahre alt sind, wird der Anteil der Rumänen und Bulgaren in den Schulklassen voraussichtlich noch mal deutlich steigen. Aktuell haben 967 Kinder in diesem Alter eine rumänische oder bulgarische Staatsangehörigkeit, das sind zehn Prozent aller Kinder dieser Altersgruppe.

Rumänisch-bulgarische Community in Gelsenkirchen ist sehr jung

Ohnehin ist die rumänisch-bulgarische Community in Gelsenkirchen sehr jung. Der mit Abstand größte Teil der Südosteuropäer ist zwischen 25 und 45 Jahre alt (jeweils über 30 Prozent). Nur 1,1 Prozent der Bulgaren bzw. 0,6 Prozent der Rumänen sind über 65 Jahre alt. Zum Vergleich: Gesamtstädtisch sind über 20 Prozent der Menschen über 65 Jahre alt.

Insgesamt leben in Gelsenkirchen mehr männliche als weibliche Südosteuropäer. Unter den 4714 Bulgaren sind 47,75 Prozent weiblich, unter den 7448 Rumänen ist das Geschlechterverhältnis ähnlich, hier sind 47,14 Prozent Frauen. Zum Familienstand und zur Haushaltsgröße hat die Stadt keine Daten. Übrigens wohnen die meisten Rumänen und Bulgaren südlich des Kanals, vor allem in Stadtteilen wie Schalke-Nord, Ückendorf, Schalke, Altstadt und Rotthausen – naheliegend mit Blick auf den prekären Wohnraum dort.

Zuletzt sind mehr Rumänen und Bulgaren aus Gelsenkirchen weggezogen

Bei der Migration aus EU-Südost gibt es eine hohe Fluktuation. Das heißt: Viele Menschen verlassen die Stadt auch wieder bzw. es fällt auf, dass diese sich gar nicht mehr hier aufhalten, obwohl sie noch in Gelsenkirchen gemeldet waren. Dass die Zahlen der Wegzüge in den vergangenen Jahren stetig gestiegen sind (siehe Grafik) kann also damit zusammenhängen, dass die Kontrollen verstärkt worden sind und beispielsweise allein über die regelmäßigen Einsätze des Interventionsteams EU-Ost 2800 Abmeldungen vom Amts wegen vorgenommen wurden.

Oberbürgermeisterin Karin Welge kritisiert, bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit handele es sich mit Blick auf Gelsenkirchen vielmehr um eine „Sozialleistungsfreizügigkeit“. Diese Feststellung wird durch die Statistik unterstrichen: Lediglich 523 Personen aus Bulgarien sowie 1097 Personen aus Rumänien gingen aktuellsten Daten nach einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach. Geringfügig beschäftigt waren 158 Personen aus Bulgarien und 89 aus Rumänien. Insgesamt wurden zuletzt 5872 Personen aus beiden Staaten gezählt, die Anspruch auf Bürgergeld haben. Demgegenüber stehen 3326 Leistungsberechtigte, die grundsätzlich erwerbsfähig wären (56,64 Prozent).

Eine Auswertung zum Bildungsniveau, zur Schulbildung und zum genauen Einkommen konnte die Stadt nicht zur Verfügung stellen. Allgemein bekannt ist aber, dass vor allem viele armutsbetroffene Roma nach Gelsenkichen migriert sind, die in ihren Heimatländern mit systematischer Benachteiligung zu kämpfen haben. „Hier kommen Menschen an, die in ihrem Herkunftsland diskriminiert wurden, die weder eine Heimat hatten noch beachtet wurden, die keinen regulären Weg gefunden haben, um sich ihr Leben zu finanzieren“, sagte Welge im Rahmen eines Pressegesprächs zu der Arbeitnehmerfreizügigkeit gegenüber der WAZ. „Es handelt sich bei uns also vor allem um eine überproportionale Armutsmigration. Zu diesem Begriff muss man stehen, weil er die Realitäten anerkennt.“

So viele Rumänen und Bulgaren haben ihre Arbeitnehmerfreizügigkeit verwirkt

Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger wie Rumänen und Bulgaren können ihr Aufenthaltsrecht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit verlieren. Allerdings sind die Hürden dafür hoch. Eine sogenannte „Verlustfeststellung“ kann durch die Ausländerbehörde etwa dann erfolgen, wenn verfälschte Dokumente für die Voraussetzung des Freizügigkeitsrechts eingereicht werden oder die Unionsbürger falsche Angaben zu ihrem Arbeitsverhältnis machen. Gleiches gilt für sogenannte Scheinehen oder Scheinvaterschaften.

Die Stadt Gelsenkirchen wünscht sich hier – gerade mit Blick auf die „Armutsmigration“ aus Südost-Europa – noch mehr Handhabe und vor allem mehr gesetzliche Sanktionsmöglichkeiten, wenn trotz Verlustfeststellung wieder nach Deutschland eingereist wird. Allerdings geht das hiesige Ausländeramt laut OB Welge mittlerweile „rigoros“ bei der Prüfung durch. Das lässt sich durchaus an den Statistiken ablesen (siehe auch Grafik). Im Jahr 2022 war die Zahl der Verlustfeststellungen auf einem Allzeithoch. Im Jahr 2020 dagegen gab es ein historisches Tief – begründet durch Corona und Vakanzen in der Ausländerbehörde zu dieser Zeit.

Mehr zum Thema lesen Sie hier: