Gelsenkirchen. Wer sind die Leute, die von Rumänien & Bulgarien nach Gelsenkirchen migrieren? „Sie leben in einer anderen Welt“, sagt ein Südosteuropa-Experte.
Wer sind die Menschen, die von Südosteuropa nach Gelsenkirchen kommen? Was ist ihre Geschichte als Bevölkerungsgruppe? Und aus welchen Erfahrungen in ihren Heimatländern, meist Rumänien und Bulgarien, schöpfen sie? Wer sie verstehen möchte, ist bei dem Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg an der richtigen Adresse. Hier wird sich täglich mit der Historie und Entwicklung des südöstlichen Europas auseinandergesetzt. Ein Kurzabriss zur komplexen Identität der Menschen, die nach Gelsenkirchen migrieren: Prof. Ulf Brunnbauer, Direktor des Instituts, und Dr. Peter Mario Kreuter, Experte in der Geschichte Südosteuropas, im Interview.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänen und Bulgaren im Jahr 2014 hat großen Einfluss auf Städte wie Gelsenkirchen gehabt. War sie auch für die Südost-Staaten selbst eine so große Zäsur?
Brunnbauer: In jeglicher Hinsicht. Erst der EU-Beitritt 2007 und später dann die Arbeitnehmerfreizügigkeit haben das Migrationsverhalten der dortigen Gesellschaften enorm verändert. Es gab vorher eigentlich mit Ausnahme der deutschen Minderheit keine Migration von Rumänien nach Deutschland. Heute sind die Rumänen hierzulande die viertgrößte ausländische Bevölkerungsgruppe. Die Folge für Rumänien ist, dass die Gesamtbevölkerung dort enorm schrumpft. Die Unternehmen bemängeln den Verlust an Arbeitskräften, die Politik zerbricht sich den Kopf über die Belastung des ohnehin labilen Rentensystems durch die starke Auswanderung vieler junger Menschen. In Bulgarien verhält es sich nicht anders, das Land hat seit 1990 fast zwei Millionen Menschen wegen Auswanderung verloren.
Dass Menschen, die nach Gelsenkirchen migrieren, häufig in Schrottimmobilien und prekären Arbeitsverhältnissen landen: Findet das Beachtung, wenn in den Heimatländern über Auswanderung debattiert wird?
Brunnbauer: Nur beschränkt. Man tendiert dazu, die Erfolgsgeschichten zu erzählen – die ja auch aus deutscher Perspektive eher der Normalfall sind. Insgesamt profitieren die Sozialsysteme und der Arbeitsmarkt in Deutschland von der Zuwanderung aus Südosteuropa. Die Menschen zahlen mehr ein als sie bekommen und sind nicht viel häufiger arbeitslos als der Rest der Gesellschaft. Die Schlachthöfe, die Bauindustrie, das Pflegewesen, die Paketzustellung: Ohne die Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien sähe die Situation dort überall fatal aus. Die Armutsmigration, die wir in Gelsenkirchen beobachten, ist ein besonderer Fall – wobei ich lieber von Diskriminierungsmigration spreche. Denn ein Großteil der Personen, die in die Ruhrgebietsstädte kommen, sind vermutlich Angehörige der Roma. Für sie interessieren sich die Heimatregierungen kaum, man ist eher froh, wenn sie wegziehen. Dabei sind sie sowohl in Bulgarien als auch Rumänien die zweitgrößte ethnische Minderheit.
Welche Diskriminierungserfahrungen hat diese Bevölkerungsgruppe gemacht?
Kreuter: Das, was wir heute als Rumänien kennen, war früher aufgeteilt in mehrere Fürstentümer, darunter die Moldau und die Walachei mit einer deutlichen sozialen Hierarchisierung. Dort bezeichnete das Wort „tzigan“, eigentlich „Zigeuner“, zugleich einen Menschen, die im Grunde nichts anderes waren als ein Sklave. Wer dazugehörte, entschied also meist die Ethnie. Und wer den „tzigan“ zugeordnet wurde, der war faktisch ein Mensch ohne Rechte.
Brunnbauer: Man kann die Situation der Roma deshalb gut mit der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA vergleichen. Beide Gruppen blicken auf jahrhundertelange Rechtlosigkeit und massive Diskriminierung zurück. Noch im Zweiten Weltkrieg waren die Roma Opfer von Massenmorden. Dort hat sich eingebrannt, dass man von dem Staat nur Schlechtes zu erwarten hat. Es herrscht ein extremes Misstrauen, man will möglichst wenig mit der Mehrheitsgesellschaft zu tun haben. Deswegen ist es sehr aufwendig, als städtischer Akteur ein Minimalvertrauen zu den Menschen aufzubauen.
Hat sich die Situation mittlerweile nicht gebessert?
Brunnbauer: Auch wenn heute rechtlich keine Ungleichheit mehr besteht, hat derjenige schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, der aussieht wie ein Roma oder einen Roma-typischen Namen trägt und in einer Roma-Siedlung aufwächst. Dort wohnen die Menschen in oft fürchterlichen Verhältnissen, die Kinder besuchen schlechtere Schulen, wenn überhaupt, und die Menschen sterben im Schnitt 15 Jahre früher als der Rest. Sie leben in einer anderen Welt.
Sie haben die Parallelen zur afroamerikanischen Bevölkerung gezogen. Dort werden Empowerment- und Anti-Rassismus-Bewegungen wie „Black Lives Matter“immer einflussreicher. Gibt es solche Entwicklungen unter Roma?
Brunnbauer: In dieser Frage liegt der Kern des Problems. Denn wenn alle Menschen, die man als Roma bezeichnen könnte, eine gemeinsame Partei wählen würden, dann wären sie politisch gut vertreten. Das tut diese Gruppe aber nicht, weil sie sehr fragmentiert ist. Die Roma sind Opfer ihrer eigenen Diskriminierung: Sie haben sich in kleine Gruppen zurückgezogen, die sich voneinander distanzieren. Die Verwandtschaft oder das Clan-System zählen wesentlich mehr als die Roma-Identität. Die Familienbande sind sehr eng.
Wie sind diese Familien organisiert?
Brunnbauer: Sie sind meist sehr patriarchalisch organisiert. Das Alter spielt bei der Hierarchisierung ebenfalls eine große Rolle. Praxis ist es dort, sehr jung zu heiraten und der älteren Verwandtschaft die Partnerwahl zu überlassen. Es ist für Außenstehende enorm schwer, in diese Strukturen einzudringen. Über die Frauen könnte man zu den Kindern gelangen, aber auch das ist schwierig, weil die Stellung der Frau in diesen Gemeinschaften nicht besonders hoch ist.
Welche anderen Punkte sehen Sie, bei denen die Konventionen und Regeln der deutschen Gesellschaft und die der Roma-Familien besonders zusammenstoßen?
Kreuter: Das Leben findet in vielen Siedlungen draußen statt, man ist draußen bis 23 oder 24 Uhr. Und das machen die Menschen natürlich auch, wenn sie woanders sind. Hochzeiten dauern drei Tage, es kommen hunderte Gäste, man ist einfach gerne zusammen und auch mal laut. Hinzu kommt: Die Menschen in Deutschland sind es noch nicht so lange gewohnt, Rumänisch zu hören. Die Intonation und das Vokabular, das sich stark von den anderen romanischen Sprachen unterscheidet, macht die Sprache sehr fremd. Das – gemischt mit der Lautstärke – sorgt in deutschen Nachbarschaften für Irritation.
Ist es nicht eine Tragödie, dass sich die Ausgrenzung der Menschen in Gelsenkirchen fortsetzt?
Brunnbauer: Es ist nachvollziehbar, dass sich hier auch Ressentiments breitmachen. Wer wäre nicht verärgert, wenn neben ihm Müll aus dem Fenster geworfen wird? Aber es wäre ein großer Schaden, deshalb an der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit herumdoktern zu wollen. Sie ist eine große zivilisatorische Errungenschaft. Die Probleme, die wir in Gelsenkirchen sehen, sind ein Resultat der Ungleichheit innerhalb von Europa und Deutschland. Als solche sollten wir sie auch anpacken. Solange es keinen echten Sozialraum in Europa gibt und solange die überschuldeten Kommunen in Deutschland mit der Problematik alleingelassen werden, werden sich Orte mit viel Leerständen, einer missglückten industriellen Transformation und Beschäftigungsmöglichkeiten am Rande der Illegalität immer wieder zu Anziehungspunkten für diese Form der Migration entwickeln.
Gibt es – trotz der vielen Problematiken – einen positiven Ausblick bei der Roma-Migration?
Brunnbauer: Die Auswanderung hilft der Gruppe der Roma in der Tat selbst und das hat mittel- bis langfristig Auswirkungen auf die Herkunftsgesellschaft. Die Menschen kommen von außerhalb an Geld und investieren das in ihren Heimat-Communities. Ihre Probleme können sich durch zunehmenden ökonomischen Erfolg von selbst lösen. Aus empirischen Studien wissen wir auch, dass rumänische Migranten, die zurückkehren, nicht mehr bereit sind, weiterhin dasselbe Maß an Korruption zu akzeptieren. Hier erkennt man die positiven Rückwirkungen der Migration.