Gelsenkirchen. Unser Autor meint: Es muss möglich sein, empathisch über Migration zu reden – und die gigantischen Probleme in Gelsenkirchen klar zu benennen.

Ein unzumutbares Leben muss es sein, in einem von Gelsenkirchens verschimmelten Schrotthäusern ohne funktionierende Heizung. Es muss zermürbend sein, alle drei Monate zum Ausländeramt gehen zu müssen, um seine Duldung in Deutschland zu verlängern. Und was muss es nur für eine Herausforderung sein, sich als junger Mann, der das lateinische Alphabet erst noch lernen muss, auf dem deutschen Arbeitsmarkt zurechtfinden zu müssen – und gleichzeitig seine Geliebten im Ausland als großer Hoffnungsträger der Familie stolz machen zu wollen?

Was wäre, wenn ich selbst in so einer Situation wäre? Diese Perspektive ist bedeutsam, wenn man über die vielen Geflüchteten und Migranten spricht, die in Gelsenkirchen leben. Doch genauso wie man den empathischen Blick wahren sollte, muss man problematisieren können, dass etwa zwei Drittel der Rumänen und Bulgaren in Gelsenkirchen Leistungsempfänger sind. Dass der größte Teil der Menschen, die einen Asylantrag in Gelsenkirchen gestellt haben, eigentlich ausreisepflichtig ist. Dass es extrem schwierig ist, für die vielen Kinder und Jugendlichen ohne Deutschkenntnisse in Gelsenkirchen, die eine Internationale Förderklasse besuchen, einen Anschluss an die Gesellschaft zu finden.

Die kleine Blase der Gelsenkirchener Politik

Es sind gewaltige Herausforderungen für Gelsenkirchen, die jedoch in der Politik eine viel zu geringe Rolle spielen. Wer die Rats- und Ausschussdebatten der Gelsenkirchener Lokalpolitik in den vergangenen Jahren beobachtet hat, der muss feststellen, dass Integration ein Randthema ist. Man redet im seltensten Fall über Parallelgesellschaften, und bildet so seine eigene Parallelgesellschaft, eine kleine politische Blase, in der selten über die Probleme geredet wird, die so offensichtlich sind, die täglich auf den Straßen, in den Restaurants und Biergärten, in den Trätschchen vor den Supermärkten verhandelt werden. Auch eine Umfrage im Auftrag der WAZ und 38 weiteren Tageszeitungen in NRW zeigte im Juni: Zuwanderung ist die größte Sorge der Menschen im Bundesland.

Gelsenkirchens Integrationsherausherausforderungen müssen endlich ernst genommen werden, meint WAZ-Redakteur Gordon Wüllner-Adomako.
Gelsenkirchens Integrationsherausherausforderungen müssen endlich ernst genommen werden, meint WAZ-Redakteur Gordon Wüllner-Adomako. © funkegrafik nrw | Anna Stais

Warum ist sie nicht auch das Top-Thema der lokalpolitischen Debatten? Liegt es daran, dass man der vermeintlichen Alternative von Rechtsaußen keine Steilvorlage bieten möchte? Spricht die AfD das Thema Integration an, fragt sie etwa nach der Situation von Rumänen und Bulgaren, dann wählt sie die Sprache des Hasses und stellt die Menschen ausschließlich als problematisch dar. Sie würde niemals auf die Idee kommen, die eingangs erwähnte menschliche Perspektive einzunehmen.

Antirassistisch formulieren und Probleme offen ansprechen – das muss möglich sein

Aber es muss doch möglich sein, konstruktiv und empathisch über Einwanderung zu debattieren. Es muss möglich sein, antirassistisch zu formulieren und gleichzeitig Probleme offen anzusprechen. Es wäre wichtig, aufgeschlossen gegenüber neuen Mitbürgern zu sein und gleichzeitig anzuerkennen, dass Menschen aus manchen Ländern mit einem patriarchalen Verständnis von Familien und unter antidemokratischen Herrschern sozialisiert worden sind. Alles andere wäre doch Augenwischerei. Und hilft nicht weiter bei dieser wirklich gigantischen Aufgabe, die Gelsenkirchen hat. Es ist eine Aufgabe, die für die gesamte Funktionalität der Gesellschaft entscheidend ist. Und eine, für die die Stadt gewiss nicht genug gerüstet ist.

Beispiele dafür findet man zu Genüge, alleine in den letzten Wochen hat die WAZ Gelsenkirchen über mehrere berichtet. Da ist das Jugendzentrum „La Palma“, das vor allem bei rumänischen und bulgarischen Jugendlichen wichtige pädagogische Arbeit leistet, bundesweit Beachtung findet – aber finanziell auf völlig wackeligen Beinen steht. Da ist die Arbeit der Wohlfahrtsträger, die für die Integration der Menschen in den Stadtteilen und den Flüchtlingsunterkünften zuständig sind, aber chronisch unterfinanziert sind und sich, Beispiel Schalke-Nord, mit drei Mitarbeitenden um 5000 (!) Menschen mit Integrationsbedarf im Stadtteil kümmern soll. Oder da ist die Wohnungslosenhilfe, die feststellen muss, dass Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund „überproportional von Mietschulden“ betroffen sind, weil sie in Deutschland auf kompliziertes Regelwerk stoßen. Natürlich ist auch das ein Integrationsproblem.

Eine Konfrontation mit diesen Problemen stößt in Politik und Verwaltung häufig auf den Reflex, dass Bund und Land mehr tun müsse. Das Geld reiche nicht aus, Gelsenkirchens „doppelte Integrationsherausforderungen“, die sich durch die Versorgung der Geflüchteten zum einen (alleine 2875 Menschen im Jahr 2022), und die der über 10.000 Menschen aus Südosteuropa zum anderen ergeben, müssten bei der Verteilung weiterer Asylbewerber berücksichtigt werden. Das ist auch richtig. Aber das heißt nicht, dass lokal nicht viel intensiver um eigene, kreative Möglichkeiten gerungen werden müsste. Die zukünftigen Debatten um den Haushalt 2024 wären eine gute Möglichkeit, um Gelsenkirchens Integrationsherausherausforderungen endlich so ernst zu nehmen wie sie wirklich sind.