Gelsenkirchen. Weil alles teurer wird, sind mehr Gelsenkirchener ohne Wohnung. Es geht aber auch um gescheiterte Beziehungen und Überforderung von Geflüchteten.
- Immer mehr Menschen in Gelsenkirchen suchen das Übernachtungsheim an der Caubstraße auf.
- Auch die Wohnungslosen-Statistik der vergangenen zehn Jahre ist auffällig. Der Flüchtlingszuzug von 2015 hat „Chaos“ in die Zahlen gebracht.
- Ohnehin besteht bei Geflüchteten und Migranten eine erhöhte Gefahr, in Wohnungsnot zu geraten. Aber „es kann jeden treffen“, heißt es von den Helfern in Gelsenkirchen.
Die enormen Preissteigerungen in Deutschland haben in Gelsenkirchen mehr Menschen in die Obdachlosigkeit gezwungen. Im Männerübernachtungsheim an der Caubstraße, wo zu kalten Jahreszeiten üblicherweise 40 bis 45 Menschen nächtigen, habe man Ende 2022 „doppelt so viele Menschen“ unterbringen müssen wie sonst, sagt Dietmar Klobuschinski, Leiter der städtischen Abteilung „Flüchtlinge und Wohnungslose“ im Sozialreferat auf WAZ-Nachfrage.
An einem Beispiel macht der Abteilungsleiter deutlich, wie Menschen, die bereits ohne festen Wohnsitz waren, schlussendlich auf der Straße gelandet sind. „Das sind etwa Menschen, die längere Zeit bei Bekannten schlafen konnten, dann dort aber nicht mehr bleiben konnten, weil die Strompreise so durch die Decke gegangen sind und der Bekannte nicht mehr für eine weitere Person sorgen konnte.“
Wohnungsvermittlung in Gelsenkirchen ist schwieriger geworden
Diese „große Dramatik“ habe man zwar mittlerweile absenken können, „was nicht nur daran liegt, dass es wärmer ist, sondern auch daran, dass wir die Probleme der Menschen anpacken und wieder mehr Menschen in Wohnraum vermitteln“. In Gelsenkirchen müsse obendrein niemand auf der Straße schlafen – „wir haben immer Unterbringungsmöglichkeiten“.
Allerdings sei die Wohnungsvermittlung schwieriger geworden, „auch aufgrund einer gewissen Konkurrenzsituation, nachdem über 2500 Menschen aus der Ukraine nach Gelsenkirchen gekommen sind.“ So hätten Vermieter vereinzelt lieber Wohnungen an ukrainische Kriegsflüchtlinge oder andere Geflüchtete vermietet, statt diese an Obdachlose zu vergeben. „Sie stehen teilweise an dritter Stelle“, so Klobuschinski.
„Erhebliche Unsicherheit“ bei der Wohnungslosen-Statistik in Gelsenkirchen
Dass Thema Migration und Flucht spielt auch bei der langzeitlichen Betrachtung der Wohnungslosenstatistik eine Rolle. Auf Nachfrage der AfD (Infobox) hat die Stadt jüngst die Entwicklung der Wohnungslosenzahlen seit 2012 dargestellt. Auffällig: 2013 war die Zahl der Wohnungslosen mit 453 Menschen auf einem Höchststand. 2015 ist die Zahl dann extrem gefallen auf 98 Menschen – um dann wieder kontinuierlich anzusteigen auf 445 Menschen im Jahr 2021. Jüngere Zahlen existieren nicht.
Wie viele Wohnungslose in Gelsenkirchen leben, ergibt sich nicht nur aus der Zahl der Menschen ohne feste Adresse, die „kommunal und ordnungsrechtlich untergebracht“ sind, einen weiteren erheblichen Anteil der Menschen melden die freien Träger der Stadt, also jene Stellen, die im Rahmen ihrer sozialen Arbeit im direkten Kontakt mit den Menschen stehen. Laut Stadtsprecher Martin Schulmann herrschte bei ihnen um 2015 herum eine „erhebliche Unsicherheit“, ob manche betreute Personen nun den Wohnungslosen oder eher den Geflüchteten zuzurechnen sind.
2015 war für Wohnungslosenhilfe der Caritas Gelsenkirchen eine „einzige Katastrophe“
Was seinerzeitig unter anderem für Chaos sorgte, erläutert Bernard Miny vom Caritasverband Gelsenkirchen auf Nachfrage. 2015 war für den Leiter der Wohnungslosenhilfe „eine einzige Katastrophe“, wie er sich erinnert. Er sorgt mit seinem Team normalerweise dafür, dass Menschen ohne eine Wohnung nicht nur Unterstützung bei dem Wiedereinzug in die eigenen vier Wände bekommen, auch bietet das Team den Menschen Postfächer, damit sie postalisch erreichbar sind und Leistungen vom Jobcenter bekommen können. 2015 aber sei plötzlich „eine Flut von Menschen“ gekommen, um Hilfe in Anspruch zu nehmen. Für das Team der Wohnungslosenhilfe „schlichtweg überfordernd.“
Sorgen wegen Heizungsgesetz
In der AfD-Anfrage zum Thema Wohnraumversorgung ging es auch um die Frage, wie sich die durchschnittliche Bruttokaltmiete pro Quadratmeter in Gelsenkirchen entwickelt hat. Diese ist von 2019 bis 2022 um 8,04 Prozent gestiegen, laut AfD „eine zusätzliche Belastung für die Bürger, insbesondere für diejenigen mit niedrigem Einkommen“.
„Besorgt“ zeigt sich die Fraktion über die Auswirkungen des geplanten Heizungsgesetztes der Ampel auf den Wohnungsbestand. „Die AfD-Fraktion befürchtet, dass die hohen Sanierungskosten, die durch das Gesetz entstehen könnten, dazu führen werden, dass noch mehr Wohnraum aus dem Markt genommen wird“, heißt es in einer Pressemitteilung.
Hintergrund waren die damaligen großen Fluchtbewegungen, vor allem aus Syrien. Plötzlich seien viele Geflüchtete gekommen, die zunächst in einem anderen Bundesland gemeldet waren und nun – ohne feste Meldeadresse – in Gelsenkirchen bei der Caritas aufliefen. „Es hatte sich offenbar herumgesprochen, dass es bei uns nette Menschen gibt, die helfen“, sagt Miny, der deswegen handeln musste – und die Geflüchteten von der Wohnungslosenhilfe ausschloss. „Sie waren ja dann nicht irgendwo gestrandet“, erläutert Miny. So sei ihnen etwa möglich gewesen, sich etwa bei einer Notunterkunft für Geflüchtete zu melden. „Man lässt ja niemanden im Regen stehen.“
In diesem Zuge „bereinigte“ Miny auch die Zahlen, die er der Stadt meldete. Geflüchtete wurden nicht mehr berücksichtigt – ein möglicher Grund, warum die Zahl der Wohnungslosen 2015 statistisch so deutlich sank. Dass sie dann wieder deutlich anstieg auf fast 450 Wohnungslose, hat nach Interpretation von Dietmar Klobuschinski von der Stadt dann aber ebenfalls mit Flucht und Migration zu tun.
Warum die Zahl der Wohnungslosen durch Flucht und Migration gestiegen ist
„Unser Kundenkreis ist durch die Geflüchteten, aber auch durch die Migranten aus Südosteuropa, definitiv größer geworden“, sagt der Abteilungsleiter „Flüchtlinge und Wohnen“. „Diese Menschen sind überproportional von Mietschulden betroffen“, sagt er. Das habe etwa mit einer Überforderung durch Bürokratie und Regelwerke zu tun.
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So bekommen Flüchtlinge, deren Asylantrag positiv entschieden wird und die dann folgend Leistungen vom Jobcenter erhalten, zunächst die Kosten für ihre Miete aufs eigene Konto überwiesen; das Jobcenter überweist in der Regel nicht direkt an den Vermieter. Plötzlich haben sie selbst also einen viel größeren Geldbetrag, den sie selbst managen müssen. „Dann kann es beispielsweise passieren, dass die Familie der Ausländer Druck auf sie aufbaut, um mehr Geld in die Heimat zu schicken – Geld, was die Menschen eigentlich für die Miete bräuchten“, gibt Klobuschinski ein Beispiel.
Auf einmal ganz ohne Wohnung dazustehen, könne aber auch allen anderen Menschen schnell passieren, ergänzt Bernard Miny von der Caritas. „Natürlich gibt es auch viele Deutsche, die ähnliche Kämpfe führen“, sagt er. Oft gehe es um gescheitere Beziehungen, die dazu führen, dass eine Person – meist der Mann – plötzlich ohne Bleibe dastehe. „Das passiert täglich“, sagt Miny. „Es kann jeden treffen.“