Gelsenkirchen. Wer sein Kind später einschulen lassen will, muss dafür gute Argumente haben. Was Gelsenkirchener Eltern, Ärzte und das Amt dazu sagen.

Eltern, die ihr Kind für ein Jahr vom Schulstart zurückstellen lassen wollen, weil sie nicht glauben, dass es bereits weit genug entwickelt ist für den Schulbesuch, haben es nicht leicht. So zumindest klagt das Netzwerk gegen Früheinschulung in NRW (Negef). Auf unsere Berichterstattung über Einschulungsuntersuchungen in Gelsenkirchen und zunehmende Defizite bei Vorschulkindern meldeten sich sowohl betroffene Eltern als auch Netzwerkvertreter. Letztere reklamieren, dass eine Rückstellung sehr wohl möglich sei, auch jenseits schwerster Erkrankungen oder Therapien der betroffenen Kinder.

Erlass erlaubt auch Rückstellungen, wenn Überforderung droht

Ein Erlass der ehemaligen Schulministerin Yvonne Gebauer aus dem Jahr 2017 habe den Weg für solche Rückstellungen freigemacht, so das Netzwerk. Tatsächlich ist dieser Erlass heute Bestandteil des Schulgesetzes und damit generell anwendbar, wie auch die Bezirksregierung in Münster auf Anfrage bestätigt. Im Erlass heißt es, dass eine Rückstellung auch dann möglich ist, wenn eine schwere Überforderung des Kindes durch den Schulbesuch zu erwarten ist.

Eltern klagen über zu wenig Aufklärung über Rückstellungsmöglichkeiten

Ohnehin entscheiden nicht Amtsarzt oder Amtsärztin über eine Rückstellung. Sie geben lediglich medizinische Einschätzungen und Empfehlungen, das letzte Wort hat die Schulleitung. Diese entscheidet aufgrund der amtsärztlichen Empfehlungen, aber auch der Bedenken der Eltern und durch Fachärzte belegte Einschränkungen oder zu erwartende Negativfolgen.

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Wie stark diese Möglichkeiten genutzt werden, hängt jedoch stark von der jeweiligen Schulleitung ab. Das Netzwerk Negef beklagt vor allem die mangelnde Transparenz der Bedingungen für eine Rückstellung. Auch Schulleitungen seien häufig nicht hinreichend informiert. Und viele Eltern wüssten gar nicht, welche Möglichkeiten es gibt, bekämen zu wenig Informationen.

Besonders schwer wird es, wenn das betroffene Kind eine Behinderung aufweist. Dann ist eine Rückstellung vom Gesetzgeber gar nicht vorgesehen. Andrea Carone hat das mit ihrem Sohn erlebt – und sich mit Unterstützung von Negef am Ende durchsetzen können. Ihr Sohn leidet an einer sehr seltenen Erkrankung, einem Gen-Defekt, der verschiedene Einschränkungen mit sich bringt. „Mein Sohn ist entwicklungsverzögert, aber er kann lernen. Ich hatte um eine Rückstellung von der Einschulung gebeten nach einer großen Operation, bei der ihm Titanstäbe in den Rücken implantiert wurden. In der Zeit konnte er natürlich nicht so gefördert werden, wie er es benötigt. Das war der Grund für den Rückstellungswunsch“, erläutert die Mutter.

Keine Rückstellung möglich bei Kindern mit schweren Beeinträchtigungen

Doch offiziell ist das nicht möglich. Kinder mit Behinderungen, die zum Stichtag nicht inklusiv in einer Regelschule beschult werden können, sind in einer Förderschule zu unterrichten. Doch die Mutter wollte dem Sohn nach der Auszeit durch die Operation Aufholzeit gönnen. In der Kita kümmerte sich eine Heilpädagogin um den Sohn. Doch ohne Rückstellungszusage von Schule und Amt sollten diese heilpädagogische Versorgung und auch der Kitaplatz nicht weiter gewährleistet werden. Es folgten schlaflose sechs Monate bis zur amtsärztlichen Untersuchung, die in der Corona-Zeit erst spät erfolgte. „Gekita hat gedroht, dass man ohne Rückstellungszusage vom Amt und der Schule keinen Kitaplatz für uns habe“, schildert die Mutter. Zum Glück hätten die Leiterin der Mährfeldschule und die Ärzte sie sehr unterstützt.

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Sie hat es letztlich geschafft. In diesem Jahr nun wird ihr Sohn eingeschult. Voraussichtlich aber nicht, wie eigentlich gewünscht, in eine Regelschule. „Die Klassen sind so voll, die Fördermöglichkeiten so gering: Da habe ich Angst, dass er untergeht. Inklusion wird in Deutschland nicht wirklich gefördert“, klagt sie. Das liege auch an der Gesellschaft und Eltern, die nicht glaubten, dass ihre Kinder ebenfalls vom gemeinsamen Lernen profitieren.

Die ärztliche Leiterin des Gesundheitsreferates, Emilia Liebers, hat bis zur Übernahme der Amtsleitung selbst viele Schuleingangsuntersuchungen betreut. „Eltern schauen anders auf ihre Kinder als wir“, erklärt sie. Die Entscheidungen über Rückstellungen aber würden stets nach einer ärztlichen Begutachtung mindestens nach dem Vier-Augen-Prinzip getroffen, die Kinder würden in allen Facetten begutachtet, versichert sie. Man halte sich an die Vorgaben und stelle sehr wohl auch Kinder zurück, bei denen es keine gravierenden aktuellen gesundheitlichen Beeinträchtigungen gibt. Etwa wenn sich die Lebensumstände des Kindes gerade wesentlich verändert haben.

Emilia Liebers würde sich wünschen, dass jedes Kind mindestens ein Jahr vor der Einschulung verpflichtend in einer Einrichtung gefördert werden kann. Wie diese Einrichtung heißt, ob Kita oder Schulkindergarten oder anders, spiele keine Rolle.
Emilia Liebers würde sich wünschen, dass jedes Kind mindestens ein Jahr vor der Einschulung verpflichtend in einer Einrichtung gefördert werden kann. Wie diese Einrichtung heißt, ob Kita oder Schulkindergarten oder anders, spiele keine Rolle. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

„Ich bin seit 27 Jahren in diesem Bereich bei der Stadt Gelsenkirchen und es gab in der Zeit lediglich zwei Klagen von Eltern, deren Kinder wir nicht wie gewünscht zurückgestellt haben. Beide Klagen wurden abgewiesen vom Gericht“, berichtet sie. Ein häufiges Argument sei, dass das Kind noch zu verspielt sei. „Aber das ist kein Rückstellungsgrund. Dass es verspielt ist, bedeutet nicht, dass es nicht lernen kann oder will.“ Auch der Sprecher der Kinderärzte, Christof Rupieper, wertet „zu verspielt sein“ nicht als Argument gegen eine Einschulung. Und Emilia Liebers ergänzt: „Wir fragen die Kinder immer, ob sie in die Schule gehen möchten. Und zwei von drei Kindern sagen ja, sie möchten. Auch wenn die Eltern das nicht wollen“, versichert die Medizinerin.

Kinder brauchen Anregungen, andere Kinder und Förderung

Bei einer Rückstellung ohne Förderung könne auch ein Schaden entstehen. „Ich habe auch schon Kinder gesehen, die sich nach einer Rückstellung negativ verändert haben. Kinder brauchen Input, um sich weiterentwickeln zu können,“ betont sie. Auch Liebers hat in den letzten Jahren zunehmend Auffälligkeiten und Defizite bei Vorschulkindern registriert, ähnlich wie die niedergelassenen Kinderärzte. Der besondere Förderbedarf steigt ihrer Beobachtung nach. Rückstellungen würden in solchen Fällen aber nicht helfen, ist sie überzeugt.

Petition für früheren Stichtag

Das Netzwerk gegen Früheinschulung hat auch eine Petition zur Änderung des Stichtags für die Einschulung im NRW-Landtag eingereicht. Bis zum Jahr 2006 waren Kinder, die bis zum 30. Juni eines Jahres sechs Jahre alt wurden, schulpflichtig. Heute liegt der Stichtag auf dem 30. September, sodass auch für Fünfjährige Schulpflicht bestehen kann.

Auch die Medizinerin Emilia Liebers sieht Vorteile in der Nutzung des früheren Stichtags, also einer Schulpflicht erst ab vollendetem sechsten Lebensjahr bei Schuleintritt.

Früher gab es Schulkindergärten mit Schulpflicht, in denen Kinder mit Defiziten auf die Schule vorbereitet wurden. Diese wurden ersetzt durch eine flexible Schuleingangsphase, in der Kinder den Stoff der ersten beiden Schuljahre je nach Bedarf binnen einem bis zu drei Jahren lernen dürfen. „Ich würde es sehr begrüßen, wenn alle Kinder ein Jahr vor dem Schuleintritt verpflichtend gefördert werden könnten, egal, ob in der Kita, im Schulkindergarten oder wie auch immer die Institution heißt“, bekennt Emilia Liebers. Das freilich müsste der Gesetzgeber regeln.