Gelsenkirchen. Nur ein Zehntel der Kinder, die im August in Gelsenkirchen eingeschult werden, haben keinerlei Defizite. Wo es den größten Aufholbedarf gibt.

Etwa jedes zehnte Kind in Gelsenkirchen, das in diesem Sommer eingeschult werden soll, weist nach Beobachtungen der Kita-Erzieherinnen „schulrelevante Auffälligkeiten“ auf. Etwa 2900 bis 3000 Erstklässler wird es im August in Gelsenkirchen geben, die genaue Zahl ist heute aufgrund von nicht genau kalkulierbaren Flüchtlings- und Zuwanderungszahlen noch offen.

35 Prozent der angehenden Schulkinder sind bereits amtsärztlich getestet

„Schulrelevante Auffälligkeiten“: Was steckt hinter dieser Umschreibung? Die ärztliche Leiterin des Gesundheitsreferates, Emilia Liebig, erklärt: „Auffälligkeiten gibt es aus sehr unterschiedlichen Bereichen: motorisch, kognitiv und beim Sozialverhalten. Aktuell fallen besonders Defizite bei typischerweise im Kindergarten Erlerntem auf, etwa Probleme beim Schneiden, Malen, aber auch bei allgemeinen Sprachfähigkeiten, auch bei deutschen Kindern. Das sind aber subjektive Wahrnehmungen.“ Noch sind nämlich nicht alle im Sommer einzuschulenden Kinder untersucht, aktuell sind es etwa 35 Prozent des Jahrgangs. Mit weiteren sehr auffälligen Kindern vor allem unter jenen, die noch keine Kita besucht haben, ist bis zum Schuljahresbeginn zu rechnen. Differenzierte Statistiken, auch zur Ausprägung von Defiziten, sind in Arbeit.

Fehlende Deutschkenntnisse auch bei Kindern in Deutschland geborener Eltern

„Auffällig ist aber die Abnahme der Deutschkenntnisse bei in Deutschland geborenen Kindern, deren Familien zwar Wurzeln in anderen Ländern haben, die Eltern aber bereits in Deutschland geboren sind und fließend deutsch sprechen“, habe das Untersuchungsteam festgestellt. Auch hier könnten – unter anderem – die Lockdowns der Kitas eine Rolle gespielt haben, während daheim Großeltern ohne gute Deutschkenntnis die Betreuung übernommen haben. Falls es tatsächlich vor allem eine Lockdown-Folge ist, könnte sich diese Situation auch zeitnah wieder verändern, so hofft Liebers.

Emilia Liebers ist ärztliche Leiterin des Gesundheitsreferates, das aktuell neu aufgestellt und ausgebaut wird.
Emilia Liebers ist ärztliche Leiterin des Gesundheitsreferates, das aktuell neu aufgestellt und ausgebaut wird. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Acht von zehn Vorschulkindern haben mehr oder weniger schwere Defizite

Allerdings haben längst nicht allein die zehn Prozent von den Kitas als besonders auffällig gemeldeten Kindern Defizite in Bezug auf einen guten Schulstart. „Nur acht bis zehn Prozent des aktuellen Jahrgangs sind nach subjektiver, bisheriger Einschätzung gänzlich unauffällig. Der riesige Anteil an Kindern zwischen den beiden Extremen zeigt Teil-Auffälligkeiten in verschiedenster Ausprägung“, erläutert die Medizinerin. „In einigen Einrichtungen müssten bei sehr enger Auslegung dieses Begriffs bzw. im Vergleich zu anderen Einrichtungen im Grunde 80 bis 100 Prozent der Kinder gemeldet werden, was logistisch verständlicherweise gar nicht machbar ist“, so Liebers.

Die rund 300 besonders auffälligen Kinder wurden von den Kindertagesstätten so früh wie möglich gemeldet und bei der Schuleingangsuntersuchung vorgezogen, um möglichst viel Zeit zur Behebung der Defizite zu ermöglichen. Die Eltern der Kinder mit diesen Förderbedarfen werden je nach Ausmaß des Förderbedarfs beraten, welche weiteren Schritte einzuleiten sind. Ihnen werden Übungstechniken im häuslichen Umfeld vermittelt, Kinderarzt-Besuche nahegelegt zwecks Überweisung zur Frühförderung und Diagnostik. Bei Bedarf ist auch eine sozialarbeiterische Begleitung dieser Schritte möglich. Mit den jeweiligen Kitas gibt es enge Absprachen, ebenfalls mit der aufnehmenden Schule, um die aktuell und zukünftig in der Schule notwendigen Unterstützungsbedarfe des jeweiligen Kindes zu kommunizieren.

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Allerdings handelt es sich bisweilen um so umfassenden Aufholbedarf, dass er nicht vollständig in der knappen verbleibenden Zeit bis zur Einschulung gelingt. Zwischen den Schuljahren 2008/09 und 2018/19 (also vor der Pandemie und bei Untersuchung des gesamten Jahrgangs) waren vermehrt Schwächen im Bereich visuelle Wahrnehmung, Zuordnungsaufgaben und Pluralbildung aufgefallen.

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Doch unabhängig von der Ausprägung der schulrelevanten Auffälligkeiten: Sie verhindern nicht die Einschulung. Von der Schule zurückgestellt, trotz Erreichen des Alters von sechs Jahren bis zum 30. September, wurden je Jahrgang in den letzten Jahren lediglich jeweils zehn bis 20 Kinder. Rückstellungen sind – so Emilia Liebers – ausschließlich aus gravierenden medizinischen Gründen möglich. Das können schwere Erkrankungen, etwa Tumorerkrankungen, Herzoperationen oder vergleichbare schwere behandlungsbedürftige Langzeiterkrankungen, sein.

Grundschulleiter: Viele Erstklässler können nicht allein zur Toilette gehen

Auch Thorsten Seiss, Leiter der Grundschule Kurt-Schumacher-Straße, hofft, dass sich die Situation nach der Corona-Phase wieder bessert, die Defizite geringer beziehungsweise früher erkannt werden. „Wir haben immer mehr Erstklässler, die nicht allein auf die Toilette gehen können, die keine Linie zeichnen können oder mehr als zwei Schritte auf einer Linie balancieren. All das sind aber Voraussetzungen, die ein Schulkind eigentlich erfüllen sollte. Auch Farben kennen, Größenunterschiede erkennen und benennen – all das können wir nicht mehr voraussetzen. Früher gab es auch den Begriff der Schulfähigkeit. Heute sollen diese Kinder in der Schule entsprechend gefördert werden“, schildert Seiss die Situation.

Intensive Förderung ist angesichts dramatischen Lehrermangels kaum möglich

Eine verlängerte Schuleingangsphase – Kinder können den Stoff der ersten beiden Schuljahre je nach Bedarf in ein bis drei Jahren absolvieren – sollte nach Abschaffung der Schulkindergärten Zeit für das Erlangen der fehlenden Fähigkeit bringen. Vor allem aber wird auf frühe Förderung gesetzt. Angesichts des extremen Lehrermangels vor allem an Grundschulen bleibt dies jedoch nicht selten nur ein frommer Wunsch, weiß Seiss aus leidvoller Erfahrung.