Gelsenkirchen. Kinderärzte in Gelsenkirchen beklagen seit Jahren extremen Zuwachs auffälliger Befunde. Warum Förderempfehlungen trotzdem oft ins Leere laufen.

Auf den WAZ-Bericht über die verheerenden Defizite und Entwicklungsstörungen bei Schulanfängern hat nun der Gelsenkirchener Kinderarzt und Obmann des Berufsverbandes der Kinderärzte BVK, Dr. Christof Rupieper, reagiert. Auch er hat eine dramatische Zunahme an Kindern, die motorisch, sprachlich und seiner Ansicht nach vor allem im Sozialverhalten nicht altersentsprechend entwickelt sind, beobachtet. „Bei der Einschulungsuntersuchung fallen diese Kinder zum ersten Mal „amtlich“ auf, das ganze Ausmaß der entwicklungsverzögerten Kinder wird dann erstmalig statistisch erfasst. Den Kinderärzten aber und vielfach auch den Kitas, sofern die Kinder eine Kita besuchen, sind sie längst aufgefallen“, versichert Rupieper.

Besser sicherstellen, dass verordnete Therapien auch wahrgenommen werden

Wenn sie aufgefallen sind – sei es in der Kita oder bei der Einschulungsuntersuchung – werden sie zum Kinderarzt geschickt, der Ergo- oder Logopädie verordnen soll, so Rupieper. „Die Kinder sind aber meistens schon seit drei oder vier Jahren beim Kinderarzt oder in den Einrichtungen auffällig. Nicht selten wurden verordnete Therapien oder Frühförderempfehlungen nicht angenommen“, so seine Erfahrung. Die Ursachen seien vielfältig.

Desolate Situation: Auffällige Befunde bei mehr als jeder zweiten Vorsorgeuntersuchung

„Während es vor 20 Jahren eher einzelne Kinder waren, findet man heute in mehr als der Hälfte der Vorsorgeuntersuchungen auffällige Befunde. Eine Verbesserung der desolaten Situation ergibt sich nur, wenn alle Institutionen (Kitas, Frühförderstellen, Gesundheits- und Jugendamt und Kinderärzte) zusammenarbeiten. Alle diese Einrichtungen haben gut ausgebildete und hoch motivierte Kräfte, aber keine Einrichtung kann alleine das Problem lösen“, ist ihm klar.

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Viele Ansätze seien zu kurz gedacht. „Ein Beispiel: In einer Kita fällt ein Kind auf. Da es nicht zur Vorsorgeuntersuchung war, wird die offene Sprechstunde des Gesundheitsamtes eingeschaltet. Es erfolgt eine Untersuchung mit dem Ergebnis, dass eine Therapie verordnet werden muss. Das kann das Gesundheitsamt aber nicht, also schickt es das Kind zum Kinderarzt. Aber was passiert, wenn die Eltern da (wieder) nicht hingehen? Es muss eine koordinierte Strategie für den Umgang mit entwicklungsverzögerten Kindern entwickelt werden“, fordert Rupieper.

Vorschlag: Im Familienbüro alle Informationen zusammenfließen lassen

Er schlägt eine koordinierende Stelle vor, angesiedelt am besten in einer positiv wahrgenommenen Stelle wie dem Familienbüro, wo alle Informationen von Kinderärzten, Kitas und Amt zusammenlaufen und nachgehalten werden kann, welche Angebote die Eltern nutzen und wie sie dabei unterstützt werden können. „Ich versuche seit gut 20 Jahren, in Gelsenkirchen ein System zu etablieren, in dem die verschiedenen Professionen kooperieren, womit auch viel Zeit und Geld gespart würde“, so Rupieper.

Balancieren – das kann längst nicht mehr jedes Schulkind. Das Problem bei der Frühförderung in allen Bereichen sieht der Gelsenkirchener Kinderarzt Christof Rupieper vor allem in der mangelnden Kontrolle bei der Nutzung verordneter beziehungsweise empfohlener Angebote: Er empfiehlt eine bessere Vernetzung der Akteure.
Balancieren – das kann längst nicht mehr jedes Schulkind. Das Problem bei der Frühförderung in allen Bereichen sieht der Gelsenkirchener Kinderarzt Christof Rupieper vor allem in der mangelnden Kontrolle bei der Nutzung verordneter beziehungsweise empfohlener Angebote: Er empfiehlt eine bessere Vernetzung der Akteure. © WAZ FotoPool | Markus Weißenfels

Was fehle, sei aber nicht immer Therapie, sondern Förderung auch im Miteinander. „Mit einer besseren Besetzung der Kitas könnten nicht nur Defizite festgestellt werden, sondern besser Talente gefördert werden, könnte die Entwicklung im Spiel mit anderen gefördert werden. Eine in der Kita angesiedelte Logopädin könnte im spielerischen Kontext dort fördern. Und es muss auch nicht immer ein Therapeut sein, auch ein Vereinsmitglied mit Trainerschein kann in der Kita etwa zur Bewegung anleiten.“ Der gemeinsame Sport helfe „nebenbei“ auch, die Sprache zu lernen, ergänzt der Kinderarzt.

In anderen Sprachen steht Bildung vor allem für Erziehung

Fördern in Kita und Schule

Ein Ansatz, der in die von Rupieper geforderte Richtung verstärkter, multiprofessioneller Förderung in der Kita und nun auch in der Grundschule geht, ist das zunächst nur in Ückendorf gestartete Projekt „Zukunft früh sichern“, kurz Zusi genannt. Dabei werden mit zusätzlichem Personal und gezielter, armutssensibler Förderung benachteiligte Kinder unterstützt.

Das Zusi-Projekt soll – so die Hoffnung der Verwaltung – langfristig auf alle Kitas und Grundschulen in der Stadt ausgeweitet werden, um so alle erreichen zu können, die solcher Förderung jenseits der Familie benötigen

Ohnehin ist für Rupieper therapeutische Förderung nicht immer die beste Lösung, Frühförderung mit Talentförderung in der Gruppe könne deutlich wirksamer sein. Wenn die Kinder Erfolge haben können in Bereichen, steigere dies das Selbstwertgefühl und motiviere mehr. „Nur im Deutschen geht es beim Bildungsbegriff allein ums Lernen und Wissen. In anderen Sprachen ist von ,Education’, also Erziehung, die Rede“ kritisiert Rupieper. Und das werde im deutschen System zu wenig mitgedacht. Mit verheerenden Folgen, ist er überzeugt.