Gelsenkirchen-Erle. „Dramatische Lage“: Auch der Leiter der Gesamtschule in Gelsenkirchen-Erle ruft nach Hilfe. Nun greift er zu einer drastischen Maßnahme.

Hier Eltern, die den Unterrichtsausfall an der Schule ihres Kindes beklagen. Und dort Schulleiter, die die Situation erklären – und relativieren: So läuft’s nicht selten bei Presse-Anfragen. Anders im aktuellen Fall Gesamtschule Erle. Leiter Andreas Lisson nimmt kein Blatt vor den Mund, als die Redaktion wegen der Kritik einer Mutter nachhakt: „Die Lage ist genau so dramatisch, wie die Eltern sie beschreiben. Wir arbeiten am Limit“, schlägt er Alarm und kündigt drastische Maßnahmen an.

Schon seit Jahren, so die Mutter, komme es in der Klasse ihres Kindes – es geht in Stufe 9 – zu krankheitsbedingtem Unterrichtsausfall, der mal mehr oder weniger gut durch Vertretungslehrer aufgefangen werde. Aber seit Ende der Weihnachtsferien habe sich die Situation so verschärft, dass bis auf montags die Nachmittagsstunden nicht mehr erteilt und die Jugendlichen früher entlassen würden. „Es gibt Tage, da sind 36 Lehrerinnen und Lehrer krank“, berichtet sie fassungslos.

Wissenslücken: Gelsenkirchenerin fürchtet, dass Kind durch Bewerbungstests rasselt

Die Gesamtschule Gelsenkirchen-Erle leidet aktuell besonders unter einem Mangel an Lehrenden. Darüber klagt eine Mutter – und der Schulleiter Andreas Lisson ebenfalls.
Die Gesamtschule Gelsenkirchen-Erle leidet aktuell besonders unter einem Mangel an Lehrenden. Darüber klagt eine Mutter – und der Schulleiter Andreas Lisson ebenfalls. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

„Wir machen uns ernsthaft Sorgen, dass die dabei entstehenden Wissenslücken nicht mehr kompensiert werden können und die Kinder die Leidtragenden sind, wenn sie durch Bewerbungstests rasseln oder in der Oberstufe scheitern“, so der Hilferuf der Mutter, die betont: „Wir sind und waren vom pädagogischen Konzept der Gesamtschule Erle überzeugt und sehen auch, dass die Lehrer, die da sind, sich engagieren, allen voran der Schulleiter. Aber das ist zu wenig, wenn der massive Stundenausfall nicht aufgefangen wird.“ [Lesen Sie auch:Gelsenkirchen: Je Schule fehlen im Schnitt vier Lehrer]

Weil in der Klasse ihres Kindes teils keine adäquate Fach-Vertretung stattfinde, die eine Stoffvermittlung gewährleiste oder nur Aufgabenpakete abgearbeitet werden müssten, versuchten sie als Eltern, die Defizite aufzufangen, wenn ihrem Kind Inhalte unklar seien. „Dabei haben wir uns bewusst für eine Ganztagsschule mit Nachmittagsunterricht entschieden, damit wir nicht selbst eingebunden sind.“

Gelsenkirchener Eltern: Haben viel Geld für Nachhilfe ausgegeben, um Lücken zu füllen

In der gewählten Zweit-Fremdsprache Spanisch etwa habe das Paar bereits viel Geld für Nachhilfe ausgegeben, um die Lücken nicht allzu groß werden zu lassen. „Von Chancengleichheit für Schüler aus sozial schwächeren Familien kann da doch überhaupt keine Rede mehr sein“, fordert sie ein Konzept, den Ausfall auszugleichen, und mehr Transparenz in der Öffentlichkeit. „Dass auch weiterführende Schulen so sehr vom Lehrermangel betroffen sind, ist vielen offenbar gar nicht klar. Es muss einfach etwas passieren!“

Schulleiter Lisson kann den Ärger und das Anliegen der Eltern „sehr gut verstehen“. Er bestätigt: Tatsächlich gibt es einzelne Klassen, in denen massiv Unterricht ausfällt, „weil mir die Lehrer fehlen; die sind entweder krank oder schwanger.“ Von 160 Kräften seien „rein rechnerisch“ aktuell 19,54 Stellen nicht im Dienst. „Das bedeutet, dass 494 Stunden entfallen – das lässt sich einfach nicht mehr durch Vertretung auffangen.“

Gelsenkirchener Schulleiter: Relativ viele schwangere Lehrerinnen fallen aus

Andreas Lisson, Leiter der Gesamtschule Gelsenkirchen-Erle, kann die Kritik von Eltern über den Unterrichtsausfall gut nachvollziehen. Es seien aber die Rahmenbedingungen, die einen Ausgleich erschweren.
Andreas Lisson, Leiter der Gesamtschule Gelsenkirchen-Erle, kann die Kritik von Eltern über den Unterrichtsausfall gut nachvollziehen. Es seien aber die Rahmenbedingungen, die einen Ausgleich erschweren. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Abgesehen von einigen kurzzeitig oder dauererkrankten Pädagogen gebe eine recht hohe Zahl von Schwangeren („als Schule im Aufbau haben wir ein junges Kollegium“), die aufgrund arbeitsschutzrechtlicher Vorschriften erst 15 Tage nach dem letzten Corona-Fall wieder arbeiten dürften. „Da wir aber immer wieder Covid-Fälle haben, fallen die Kolleginnen praktisch sofort nach Bekanntgabe ihrer Schwangerschaft aus. Alleine seit Weihnachten waren es drei.“

(Befristete) Vertretungsstellen auszuschreiben, sei nur bei längeren Krankschreibungen möglich, wobei der Verwaltungsaufwand mindestens vier Wochen Zeit in Anspruch nehme: Bis die neue Kraft endlich in der Klasse stehen kann, seien die Osterferien vorbei (Mitte April). „So richtig hilft uns das nicht, weil die neuen Kolleginnen und Kollegen ja auch eingearbeitet werden müssen, es aber in diesem extrem kurzen Halbjahr mit vielen Feiertagen schon am 20. Juni Zeugnisse gibt.“

Gelsenkirchener Schulleiter kritisiert Quoten-Vorgaben des Landes für Lehrende

Das größere Problem freilich sei: „Der Markt an voll ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern ist leer gefegt. Zu kriegen sind fast nur noch die teureren Kräfte für die Sekundarstufe I/II, die ich aber aufgrund der Quoten-Vorgabe des Landes nicht einstellen darf, wenn das Kollegium bereits aus 47 Prozent Sek.-II-Pädagogen besteht.“ 53 Prozent der Lehrkräfte an Gesamtschulen müssen (günstigere) Sek.-I-Pädagogen sein. Aber: „Auf eine niedriger dotierte Stelle bewirbt sich doch niemand.“

Und die Seiteneinsteiger sowie Alltagshelfer, mit denen NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU) dem Lehrermangel begegnen will? „Die lösen unsere Personalprobleme in der Praxis nicht“, redet Lissons Klartext. Quereinsteiger mit einem Bachelor- oder Master-Abschluss in einem Fach könnten Lehrer mit mindestens zwei Fächern und einer entsprechenden pädagogischen und didaktischen Ausbildung nur bedingt ersetzen.

Schulleiter Lisson: Viele Seiteneinsteiger sind im Schulalltag überfordert

„Diese Leute sind zumeist überfordert, wenn sie in unseren übervollen Klassen mit 30 lärmenden Schülern stehen, von denen einige sprachliche Problemen haben und andere Inklusionskinder mit Einschränkungen sind. Auch mit der Leistungs-Heterogenität kommen sie vielfach nicht klar“, so seine Erfahrung. Da sie sofort Unterricht erteilen müssten und nur einmal wöchentlich eine pädagogische Begleitung erhielten, seien sie den Herausforderungen oft nicht gewachsen – und eben kein Ausgleich für fehlende Fachlehrer.

Vier der 160 Lehrenden an der Gesamtschule Erle sind „echte“ Seiteneinsteiger, hinzu kommen elf Vertretungslehrer mit befristeten Verträgen, die kaum oder keine Erfahrung im Lehrerberuf haben. Eine Entfristung sei da aufgrund der pädagogisch-didaktischen Defizite mitunter schwierig, so Lisson weiter. „Die Gefahr ist, dass die Kollegen aufgrund der Überforderung länger krank werden und selbst vertreten werden müssen. Das hilft uns nicht. Einer hat jetzt sogar von sich aus gekündigt, weil er sich das alles anders vorgestellt hatte.“

Alltagshelfer entlasten, werden aber auf Lehrer-Stellenplan angerechnet

Die sechs Alltagshelfer an der Gesamtschule Erle entlasteten unterdessen tatsächlich mit ihren 287 Einsatzstunden, indem sie etwa ausgewählten Fünft- und Sechstklässler in einer 1:1-Betreuung beim Lesen-Üben unterstützten. „Diese Studierenden helfen also, die Entwicklungs- und Lernverzögerungen durch Corona etwas auszugleichen. Aber sie werden leider auf den Stellenplan angerechnet, obwohl sie keine Fach-Lehrer ersetzen.“

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Was also ist zu tun in dieser „dramatischen Bildungssituation“, von der Lisson ausdrücklich nicht nur seine Schule betroffen sieht? „Auf Landesebene müsste sich ein überparteiliches Expertenteam zusammensetzen und Bildungspolitik in längeren Abständen denken, ganz unabhängig von Legislaturperioden. Auch an die Strukturen müsste man ran: Es kann doch nicht sein, dass Gesamtschulen aus den Nähen platzen, während Gymnasien teils zweizügig dahindümpeln.“ Die Rahmenbedingungen müssten insgesamt verbessert werden, damit der Lehrerberuf attraktiver werde. „Aktuell beginne zu wenige ein Lehramtsstudium.“

Gesamtschule Gelsenkirchen-Erle kürzt Nachmittagsunterricht bis zu den Sommerferien

Für seine Schule sieht Lisson derweil nur eine Möglichkeit: „Wir kommen nicht darum herum, den Nachmittagsunterricht für alle Stufen in der Sekundarstufe I jeweils um eine Stunde zu kürzen. Er endet also künftig statt um 15.50 schon um 15.10 Uhr.“ Geplant ist diese Maßnahme, die dem Kollegium und der Schulkonferenz kurzfristig vorgestellt werden soll, bis zum Beginn der Sommerferien. Die Bezirksregierung Münster sei bereits informiert.

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Zum neuen Schuljahr will Lisson das bisherige Zeitraster grundsätzlich überarbeiten. Geplant ist, die einstündige Mittagspause statt nach sechs bereits nach fünf 45-Minuten-Stunden anzusetzen und danach zwei Stunden Nachmittagsunterricht zu erteilen.