Gelsenkirchen. Die drei Berufskollegs in Gelsenkirchen kämpfen gemeinsam um bessere Orientierungs- und Ausbildungsmöglichkeiten. Was sie sich dafür wünschen.

7300 Schülerinnen und Schüler – 1300 mehr als vor zehn Jahren prognostiziert – lernen in den drei Berufskollegs der Stadt aktuell. Eigentlich ist das ja eine sehr gute Nachricht angesichts des drängenden Fachkräftemangels in allen Bereichen inklusive Handwerk. „Nicht zu vergessen ist auch der Arbeitskräftemangel im Bereich körperlich fordernder Berufe“, erinnert Uwe Krakau, Leiter des Berufskollegs Technik und Gestaltung. Doch damit all diese Heranwachsenden auch wirklich in die Berufe einsteigen können, für die sie geeignet sind und in denen sie auch gern arbeiten, braucht es gute Orientierungs-, Lern- und Ausbildungsbedingungen. Und an dem Punkt gibt es klaren Verbesserungsbedarf.

Kein Ende absehbar bei Sanierungsarbeiten

Bereits im Entwicklungsgutachten von 2013 war allen drei Berufskollegs – Königstaße, Am Goldberg (damals Eduard-Spranger) und Technik und Gestaltung (BTG) – hoher Sanierungsbedarf an den Standorten bescheinigt worden. Die Zweigstelle Augustastraße des Königstraßen-Kollegs glaubte man aufgeben zu können, die dort angesiedelten Wirtschaftsschüler sollten aufgeteilt werden auf Goldberg und Königstraße. Die damals bereits zeitnah zugesagte Renovierung des naturwissenschaftlichen Trakts an der Königstraße ist jetzt erst angelaufen. „Das ist zwar belastend, weil uns dadurch Räume fehlen. Aber Baulärm ist für uns trotzdem wie Musik“, versichert Kollegleiter Gorden Skorzik. [Lesen Sie auch: Gelsenkirchens perspektivlose Junge – ist das ein Heilmittel?]

Bisher ging es vor allem um Aufrechterhaltung der Unterrichtsmöglichkeiten

Am Berufskolleg Königstraße werden die dringend benötigten, künftigen Erzieherinnen und Erzieher ausgebildet. Auch hier gibt es verschiedene Wege zum Beruf, inklusive Abitur.
Am Berufskolleg Königstraße werden die dringend benötigten, künftigen Erzieherinnen und Erzieher ausgebildet. Auch hier gibt es verschiedene Wege zum Beruf, inklusive Abitur. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Mit dieser Art von Musik wurden die Kollegs in den letzten Jahren allerdings nur sehr eingeschränkt erfreut. „Es ist einiges passiert, aber in erster Linie dienten die Arbeiten bisher fast ausschließlich der Aufrechterhaltung der Unterrichtsmöglichkeiten“, erklärt Krakau. Auch Ralf Niebisch, Leiter des Berufskollegs Am Goldberg, hatte zwar schon mehrfach Bauarbeiten in den Häusern. Aber vor allem ging es dabei um Sanierungen, auch um die Beseitigung von PCB-Schäden. „Im Moment entfallen so viele Unterrichtsräume, dass es vormittags keinerlei Ausweichmöglichkeiten mehr gibt. Jeder Raum ist belegt“, so Niebisch.

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Das Problem auch für die Gewinnung von Fachkräften: In den Nachbarstädten wie Recklinghausen, Bochum und bald auch Essen wurde bereits kräftig saniert und modernisiert. Dort lockt man mit guten Lern- und Arbeitsbedingungen. Wenn die Nachbarstädte jedoch Berufsschüler aus Gelsenkirchen abziehen, ist die Gefahr groß, dass diese sich dort auch ihren Arbeitsplatz nach der Ausbildung suchen. Was für Gelsenkirchener Unternehmen fatal wäre. Seit zwei Jahren haben die Planungen für die Berufskollegs wieder Fahrt aufgenommen, das Gutachten zur weiteren Entwicklung ist in Arbeit, kann vermutlich nach den Sommerferien vorgestellt werden, schätzt Bildungsdezernentin Anne Heselhaus.

Deutlich ausbaufähig wäre nach Einschätzung der drei Berufskollegleiter allerdings der Informationsfluss, der Schülerinnen und Schüler weiterführender Schulen über die vielfältigen Möglichkeiten an Berufskollegs aufklärt. Zwar helfen Maßnahmen wie Potenzialanalyse und Praktika bei der Orientierung und dem Entdecken von Talenten.

Zu den Berufsmessen der weiterführenden Schulen sind Berufskollegs selten eingeladen

Uwe Krakau (Technik und Gestaltung), Gorden Skorzik (Königstraße) und Ralf Niebisch (Am Goldberg) kooperieren statt um Schülerinnen und Schüler zu konkurrieren. Das ist leider keine Selbstverständlichkeit.
Uwe Krakau (Technik und Gestaltung), Gorden Skorzik (Königstraße) und Ralf Niebisch (Am Goldberg) kooperieren statt um Schülerinnen und Schüler zu konkurrieren. Das ist leider keine Selbstverständlichkeit. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

„Aber zu den Berufsmessen, die einige Gesamtschulen anbieten, werden wir gar nicht eingeladen. Obwohl eine Vorbereitung auf ein Ingenieurstudium in unserem technik-orientierten gymnasialen Zweig ab Jahrgang zehn hilfreich sein kann. Zumal am Ende die Allgemeine Hochschulreife steht, die für alle Studiengänge die Türen öffnet“, berichtet Krakau. Abgesehen davon könne man als Berufsschule auch über berufliche Alternativen zum Studium nach dem Abitur oder der viel zu wenig geschätzten Fachhochschulreife aufklären. Um die Schulen für die breite Palette der Berufsschulangebote zu sensibilisieren, luden die BKs die Beratungslehrer aller weiterführenden Schulen ein; immerhin 40 folgten der Einladung. Generell versuchen Schulen mit Oberstufe jedoch, ihre Schülerschaft selbst zum Abitur zu führen, unabhängig von deren Berufsziel.

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„Die Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten in Ausbildungsberufen sind deutlich besser als die meisten glauben. Und das Handwerk hat immer noch goldenen Boden,“ versichert Krakau. Gerade bei zugewanderten Jugendlichen, die häufig der Selbstständigkeit, „dem Entrepreneurship“, offener gegenüberstünden, sei auch der Einzelhandelsbereich sehr attraktiv, versichert Gorden Skorczik. Der Bäckerberuf, bei dem extremer Mangel herrscht, etwa sei für manchen Zuwanderer, für den eine Rückkehr langfristig denkbar ist, attraktiv, da er überall ausgeübt werden kann. 1500 bis 2500 Euro verdienen Bäcker, Kaufleute kommen – auch abhängig von der Betriebsgröße – auf 2000 bis 2300 Euro. In Industriebetrieben seien auch 3500 Euro drin, versichern die Experten. Medizinische Fachangestellte kommen auf 2200 Euro – mit exzellenten Anstellungsaussichten und Qualifizierungsmöglichkeiten.

Die oft zitierten Niedriglöhne im Verkäuferbereich und Erzieherbereich seien häufig schlicht der Teilzeitarbeit geschuldet. „Auch Erzieher verdienen längst nicht so wenig, wie immer behauptet wird. Das Einstiegsgehalt liegt bei 3000 Euro. Und es gibt auch Aufstiegsmöglichkeiten, nicht nur in der Kita, auch in Jugendeinrichtungen“, versichert Skorzik.

Abbruch von Ausbildungen wegen mangelnder Berufsorientierung

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Trotz intensiver Beratung bei der Anmeldung zu den Berufskollegs: Nicht immer erweist sich die Fachrichtung des gewählten Kollegs als richtig. „Viele kommen ja ohne eine wirkliche Vorstellung von ihrem künftigen Beruf zu uns, viele auch zunächst ohne Abschluss. Sie werden bei uns erst entsprechend vorbereitet auf eine Berufsausbildung. Und wenn sich dann bei uns zeigt, dass die Talente eigentlich auf einem anderen Gebiet liegen, müssen sie eigentlich die Schule wechseln“ erläutert Niebisch ein nicht seltenes Problem, das auch zum Abbruch von Ausbildungen führen kann. [Lesen Sie dazu auch: Enorm viele Ausbildungsabbrecher in Gelsenkirchen]

Ein gemeinsames Drehtürmodell könnte solchen Fällen vorbeugen, schlagen die drei Schulleiter vor. Wenn die Schüler problemlos in alle Bereiche hineinschnuppern oder bei Bedarf wechseln könnten, steigere das die Berufszufriedenheit – und sichere so die Fachkräfteversorgung, sind die drei überzeugt. Ein gemeinsamer Bildungscampus mit räumlicher Nähe der drei Einrichtungen mit ihrem umfangreichen Angebot könnte da hilfreich sein.

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Oberbürgermeisterin Karin Welge hatte vor ihrer Wahl zur OB angekündigt, einen „interdisziplinären, ganzheitlichen Bildungscampus, der die Arbeitswelt auf eine ganz neue Weise vernetzt“, einzurichten. Es sollte „ein Beratungsangebot aus einer Hand“ für 15- bis 25-Jährige geschaffen werde, „um jungen Menschen eine bestmögliche Perspektive zu geben,“ versprach sie im Januar 2022. Die Berufskollegs müsste man um Unterstützung nicht erst bitten.