Warum gibt es so dramatisch viele Schulabgänger ohne Abschluss in Gelsenkirchen? Und wie kann sich das ändern: Das schlägt die Schulaufsicht vor.
Gelsenkirchen 200 junge Gelsenkirchener verließen im Jahr 2021 ihre allgemeinbildenden Schulen ohne jeden Abschluss: Das waren 7,8 Prozent aller Schulabgänger in der Stadt. Damit führte Gelsenkirchen einmal mehr eine Negativliste an, und zwar haushoch. Der vorletzte auf der Liste, Herne, lag bei 5,9 Prozent, Duisburg mit seiner vergleichbaren Schülerschaft bei 3,5 Prozent, der Landesschnitt lag bei 2,1 Prozent. Warum ist das in Gelsenkirchen so extrem, wollten die Bildungspolitiker von der Schulaufsicht wissen.
Die Fraktionen der AfD und der WIN hatte zum Thema einen Antrag gestellt, in dem auch die Gelsenkirchener Verwaltung um Stellungnahme dazu aufgefordert wurde. Rede und Antwort unter anderem zu diesem Thema standen in der Sitzung des Bildungsausschusses der zuständige Abteilungsleiter der Schulaufsicht in Münster, Matthias Schmied, sowie der Dezernent Uwe Eisenberg. [Lesen Sie auch: Dramatisch viele Sechstklässler mussten gehen]
Elternhaus, soziales Umfeld, Pandemie und fehlende Sprachkompetenz spielen eine Rolle
Ein niedriges Bildungsniveau der Eltern, ein schwieriges soziales Umfeld, mangelnde Sprachkompetenz bei neu zugewanderten Jugendlichen, die Pandemie, die durch das Distanzlernen das soziale Lernen und gegenseitige Motivation verhinderte: All das habe sicher dazu beigetragen, dass die Zahlen im vergangenen Jahr noch verheerender ausgefallen seien als in den Vorjahren, erklärte Schmied einleitend. 8,5 Prozent waren in Gelsenkirchen im Jahr 2017/18 – also vor der Pandemie – ohne Abschluss von der Schule gegangen, im Schuljahr 2019/20 waren es „nur“ 4,6 Prozent.
Schulverweigerung ist das Kernproblem
„Entscheidender als all das Genannte aber ist, dass die Kinder überhaupt in die Schule kommen. Schulabsentismus ist der Hauptgrund, warum junge Menschen keinen Abschluss schaffen. Schulverweigerer schaffen es nicht, und das müssen wir als erstes in den Griff kriegen“, so Schmied. Uwe Eisenberg, Schuldezernent der Schulaufsicht, berichtete, dass die Bezirksregierung gemeinsam mit den Universitäten Dortmund und Essen Gründe für den Schulabsentismus und vor allem Wege finden wolle, Schülerinnen und Schüler verlässlich in die Schulen zu holen.
Dafür solle ein Netzwerk aufgebaut werden, das Lehrern schnell ermöglicht, sich Unterstützung zu holen bei Bemühungen, Schulverweigerer in den Unterricht zu bringen. Bei einem Projekt in Bottrop und Ahlen sei es gelungen, Kinder mit emotionalem und sozialem Förderbedarf in der Pandemiezeit zurückzuholen. Es gelte, schon beim Schuleintritt durch Sozialarbeiter oder anderes Fachpersonal zu ermitteln, wo es Unterstützungsbedarf geben könnte. Hilfreich könne auch quartiersbezogene Bildungsförderung sein. Bis 2030 habe man sich zum Ziel gesetzt, im sozialen Miteinander und im Quartiersumfeld auch bildungsfernen Schichten zu verdeutlichen, wie wertvoll Bildung ist.
Langzeitpraktika helfen, eine neue Perspektive zu eröffnen
Bewährt haben sich, so Eisenberg, Langzeitpraktika, durch die jugendliche Schulverweigerer eine Perspektive für ihr Berufsleben erkennen und den Wert einer Tagesstruktur und des Lernens (wieder-)entdecken könnten. Auch Online-Lernformate seien zum Teil hilfreich, wenn es sich um Schulverweigerer handele, die die sozialen Begegnungen in der Schule scheuen.
Bußgeld hilft nur bedingt beim Beseitigen der Probleme
„Schulpflichtverletzungen gibt es mittlerweile überall, es ist ein wachsendes Problem“, versichert Eisenberg. Auch wenn Bußgelder angewandt werden müssten und würden, seien die nur sehr bedingt hilfreich. Besser sei, die Ursachen zu beheben, zu fördern, bei Bedarf Einzelfallhilfen durch das Jugendamt zu vermitteln. Wo all das nicht helfe, solle eine Clearingstelle weitere Schritte bis hin zum Klinikaufenthalt einleiten.
+++ Sie wollen mehr aus Gelsenkirchen erfahren? Lesen Sie hier mehr Artikel und Reportagen oder abonnieren Sie die WAZ Gelsenkirchen auf Facebook! +++
In Gelsenkirchen kümmert sich der im vergangenen Jahr von der Stadt auch langfristig gesicherte Sozialdienst Schule in Abstimmung mit Lehrkräften und Schulsozialarbeitern um Schulverweigerer. An die 100 Mitarbeiter zähle das Team mit vielen Professionen bereits, erläuterte Gelsenkirchens Bildungsdezernentin Anne Heselhaus, worauf aufgebaut werden könnte.
+++ Sie wollen keine Nachrichten aus Gelsenkirchen verpassen? Dann können Sie hier unseren kostenlosen Newsletter abonnieren +++
David Fischer von den Grünen verwies auf die erfolgreiche Arbeit von Berufskollegs bei der Ausbildungsvorbereitung und dem nachholen von Abschlüssen. 60 Prozent der Abgänger von allgemeinbildenden Schulen schaffen an Berufskollegs einen Abschluss. Matthias Schmied bestätigte diese Erfahrung und verwies auf eine Studie dazu, die das belege.