Gelsenkirchen. Drastischer Lehrermangel und Raumnot gefährden Bildungs- und Chancengerechtigkeit in Gelsenkirchen. Wie die Situation war, ist und werden könnte.
An Gelsenkirchens Grundschulen herrscht dramatischer Lehrermangel. Das städtische Bildungsdezernat kündigt den Schulpflegschaften der Grundschulen 103 Lehrer-Zuweisungen für März an, die den Mangel lindern sollen. Zudem wird ein Anreizkatalog für Pädagogen angekündigt, um Lehrer freiwillig nach Gelsenkirchen zu locken. Im Bauamt werden 15 Bauanträge von Lehrkräften in die höchste Dringlichkeitsstufe geschoben.
Eltern erhöhen Druck auf Münster – mit mäßigem Erfolg
400 Lehrkräfte fehlen an den Schulen der Stadt. Auf Initiative des Kulturdezernats starten das Düsseldorfer Kultusministerium und die Stadt Gelsenkirchen eine Werbekampagne, um zusätzliche Lehrer für Gelsenkirchen zu gewinnen. 1800 Werbe-Prospekte werden an den 35 Lehrerseminaren des Landes verteilt. Am Ende bewegen sie nur 25 angehende Pädagogen dazu, sich Gelsenkirchen wenigstens mal anzusehen. 55 Bürofachkräfte – die meisten zuletzt als Hausfrauen aktiv – haben sich nach einem Aufruf der Stadt als Schul-Sekretärinnen gemeldet. Sie sollen nach einer zehntägigen Einarbeitung die Pädagogen bei der Verwaltungsarbeit entlasten.
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Elternsprecher fahren nach Münster zum Regierungspräsidenten, um den Druck zu erhöhen. Ihnen wird die Zuweisung von 80 Pädagogen zum 1. März zugesagt. Die Eltern drohen mit Schulstreik, falls die Situation nach dem 1. März schlechter ist als versprochen. Doch nur 56 der 80 angekündigten Lehrkräfte treten tatsächlich den Dienst in Gelsenkirchen an, laut Stadt „unbegründeter Vorurteile wegen“. Nun fordern Eltern das Kultusministerium und die Bezirksregierung auf, relativ gut mit Lehrern versorgte Städte und Gemeinden solange zum Sperrgebiet zu erklären, bis die katastrophale Situation in Gelsenkirchen behoben ist.
Elternvertreter appellieren jetzt an pensionierte Lehrkräfte, sich wieder für den Schuldienst zur Verfügung zu stellen. Die Stadt erwägt, 5000 Lehramtsanwärter anzuschreiben, um sie für den Schuldienst hier zu gewinnen. Der Kultusminister behauptet nun, der Lehrermangel sei spätestens in zwei Jahren beseitigt. Doch Mitte des Jahres fehlen hier noch 292 Lehrkräfte, mehr als jede fünfte Stelle ist an Grund-, Haupt- und Sonderschulen nicht besetzt.
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Anwärter aus dem Saarland sollen angeworben werden, wo 102 Junglehrer keine Anstellung gefunden haben. Es kommen 20. Der Arbeitskreis Emscher-Lippe der Schulpflegschaften fordert den Ministerpräsidenten auf, den Lehrernotstand auszurufen, die Freizügigkeit der Lehrer einzuschränken und für das hiesige Notstandsgebiet den Ortsstellenzuschlag zu verdoppeln. Die Antwort aus Düsseldorf lautet: Der Lehrerbedarf könne schon bald gedeckt werden.
Erschreckende Parallelen zur Situation vor 50 Jahren
Nein, all dies ist kein Rückblick auf 2022. Alle Beispiele stammen aus der Gelsenkirchener Stadt-Chronik des Jahres 1972. Der Kultusminister hieß Jürgen Girgensohn, der städtische Dezernent Heinz Meya, der sozialdemokratische Ministerpräsident Heinz Kühn. Die faktischen Parallelen zu 2022 aber sind erschreckend.
Auch 2022 herrschte in Gelsenkirchen dramatischer Lehrermangel, gab es Unterrichtskürzungen an Grund- und Förderschulen. 52 Lehrkräfte fehlten laut Bezirksregierung an Grundschulen, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft spricht von vier fehlenden Pädagogen je Grundschule, stadtweit 160. Gelernt wird damals wie heute in zu großen Gruppen und zu kleinen Räumen, damals wie heute sucht man ebenso verzweifelt wie erfolglos nach Anreizen, die auswärtige Pädagogen anlocken könnten. Mehr Geld, Stadtrundfahrten, Willkommenskultur sowie Baugrundstücke für die Pädagogen und Kita-Plätze für deren Kinder sind noch nicht viel mehr als Ideen.
Ein Beispiel, wie Schulneubau laufen kann: Die neue Ebersteinschule
Immerhin ist die Ausstattung vieler (aber längst nicht aller) Schulen in der Stadt gut, besser als in anderen Städten, vor allem im digitalen Bereich. Die Zugkraft der Stadt erhöht hat das bislang kaum, immerhin den Klebeeffekt bei Referendaren. Auch die Forderung nach bedarfsorientierten, direkten Lehrer-Zuweisungen in unterversorgte Städte wie Gelsenkirchen statt ins Leere laufender Ausschreibungsverfahren wird in Düsseldorf weiterhin nicht erhört.
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Die Hausfrauen von 1972 zur Bürokratie-Entlastung stehen heute nicht parat. Sekretariate und Hausmeisterstellen sind unterbesetzt, multiprofessionelle Kräfte wie Schulpsychologen, Sozialpädagogen und mehr sind Mangelware. Bis heute hat das Land nicht ausreichend Studienplätze für Grundschul- und und Sonderpädagogen geschaffen. Wer Förderschüler in Mathe unterrichten will, braucht Spitzennoten für den NC.
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Die Stadt begann erst 2018, mehr Schulraum für die wieder steigende Schülerzahl zu planen. 2018er Prognosen erwiesen sich schon 2020 als zu niedrig. Drei Erweiterungsbauten an Grundschulen, einer an der Lessing-Realschule, die Reaktivierung der Caubstraße und der Grundschul-Neubau an der Ebersteinstraße sind nun fertiggestellt, ein Neubau an der Kurt-Schumacher-Straße läuft und wird voraussichtlich plangerecht fertig – auch dank Gemeinnütziger Wohnungsbaugesellschaft.
Doch bei der neuen Gesamtschule, der Kulturschule, gibt es seit mehr als einem Jahr absoluten Stillstand, ebenso wie bei der Erweiterung der Gesamtschule Erle, die wie fast alle Gesamtschulen längst aus allen Nähten platzt. Der erste Bau in Eigenregie könnte eventuell 2025 in Betrieb gehen – ein Jahr zu spät laut Schülerprognosen. In Ückendorf lernen die Grundschüler Stephanstraße wegen deren Erweiterung seit mehr als einem Jahr in Containern, Ende offen. Fünf weitere Erweiterungsbauten sind bis 2024/25 geplant, drei weitere Grundschul-Neubauten sollen folgen. Das Nadelöhr ist das Baureferat.