Gelsenkirchen. Sie waren die allerersten Abiturienten einer Gesamtschule, schwärmen vom damaligen System. Wie sie auf die heutigen Nachfolge-Schulen blicken.

Gelsenkirchen zählte anno 1969 zu den sieben Pionieren in NRW, die eine neue Modellschule gründeten. Die Gesamtschulen sind zweifellos ein Produkt des Aufbruchs nach 1968, als Studenten die Talare lüfteten und Drill und Disziplin als oberste Währung nicht mehr akzeptieren wollten. Das Gebäude der heutigen Gesamtschule Berger Feld war noch im Bau, man lernte in Provisorien, an der ehemaligen Grundschule Brinkgartenstraße und im heutigen Oberstufengebäude der Gesamtschule Buer-Mitte. An den Start gingen nur fünfter und elfter Jahrgang, die Schule wuchs langsam auf.

Neun von 91 Gold-Abiturienten sind gekommen, über 70 Ehemalige insgesamt

Am zweiten Weihnachtsfeiertag treffen sich – alle Jahre wieder – ehemalige Schülerinnen und Schüler der seit 1972 in Erle beheimateten Gesamtschule. Doch diesmal ist es ein besonderes Treffen: Es gibt die allerersten Gold-Abiturienten. Einige von jenen, die im 11. Jahrgang gestartet waren, sind gekommen. Angelika Drochtert ist eine von ihnen. Sie wechselte von der Realschule in die neue Modellschule. Auch ihrem Vater, einem Schneidermeister, gefiel das Konzept einer Schule, die sich die Förderung von eigenständigem Denken und Chancengleichheit ins Programm geschrieben hatte. Womit er eher die Ausnahme war. Die meisten (Akademiker-)Eltern blickten sehr skeptisch auf die neue „Lernanstalt“.

Angelika Drochtert mit ihrem Abiturzeugnis. Fotos von damals hat sie ebenso wenig wie ihre einstigen Schulkolleginnen.
Angelika Drochtert mit ihrem Abiturzeugnis. Fotos von damals hat sie ebenso wenig wie ihre einstigen Schulkolleginnen. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Angelika Drochtert hat das Lernen im freien Kurssystem ohne enge Lehrpläne genossen. „Wir konnten unseren Stundenplan selbst erstellen, uns je nach Neigung für Kurse entscheiden. Wir haben sehr viel diskutiert, in und außerhalb der Schule. Alle Gremien waren paritätisch besetzt, es gab je 50 Prozent Mädchen und Jungen, je die Hälfte kam von Gymnasien und Realschulen.“ Hauptschulen gab es damals nicht, die dritte Säule waren Volksschulen mit erster bis neunter Klasse.

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„Viele Gymnasiallehrer behaupteten, uns werde das Abitur nachgeworfen. Das stimmte nicht. Aber die Herangehensweise war anders. Man dachte nicht „die hat das Abi nicht geschafft“, sondern „die hat den Realschulabschluss geschafft“, erinnert sich Drochtert, „das war völlig neu“.

Nach dem Abitur studierte die geborene Angelika Hilbert katholische Theologie. Aber da sie gelernt hatte, ihre Meinung zu äußern, politisch (eher links) engagiert war, gab es für „eine wie sie“ in Münster keine Stelle in dem Fach. Sie hängte ein Medizinstudium an, arbeitete als Strahlentherapeutin – und ist nach 40 Jahren in Münster nach Gelsenkirchen zurückgekehrt. „Das wollte ich schon immer, ich bin sehr gerne hier und kann das Schlechtreden der Stadt wirklich nicht mehr hören“, ärgert sie sich.

„Die guten, engagierten Lehrer sind vom Gymnasium aus mitgewechselt“

Dr. Hildegard Buck, lange Kiefernorthopädin in Buer, gehörte zu jenen, deren Eltern wenig begeistert waren von der Entscheidung ihrer Tochter für die Gesamtschule. Doch sie ließen ihren sechs Kindern die Freiheit zu lernen, wie und wo sie wollten. Hildegard Buck kam vom Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium (AvD). „Die konservativen Lehrer machten die neue Schule schlecht, aber die guten, engagierten Lehrkräfte sind mit an die Gesamtschule gewechselt, das hat auch meine Entscheidung beeinflusst.“ Bereut habe sie es nie, im Gegenteil.

Ewa Kotzan-Meiwes schwärmt vom Zusammenhalt von Lehrern und Schülerschaft damals. „Wir haben uns in den Ferien getroffen, um den Unterricht für das nächste Schuljahr zu besprechen und vorzubereiten. Für uns gab es ja kaum Schulbücher. Wir konnten ganz neue Schwerpunkte wählen. Ich hatte Pädagogik und Psychologie, das haben Uni-Dozenten unterrichtet, weil es dafür keine Lehrer gab“, erinnert sie sich.

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Bei der Anmeldung ans Gymnasium in den 60er Jahren fragte man Arbeiterkinder am AvD, ob sie denn WIRKLICH zum Gymnasium müssten. Und wenn schon, dann sollten sie doch bitte nicht Latein wählen, was wollten sie damit schon anfangen. Doch wer fürs Studium später Latein brauchte, konnte das am AvD in der Oberstufe nicht nachholen – aber an der Gesamtschule.

Eigentlich wollte Ewa Kotzan später als Lehrerin auch an einer Gesamtschule arbeiten. „Ich habe es versucht, aber die Arbeitsbedingungen waren zu schlecht. Die Schulpolitik hat das System zu schlecht ausgestattet. Heute ist die Gesamtschule auch nicht mehr paritätisch besetzt, eher eine Resteschule“, klagt die spätere AvD-Lehrerin.

„Was heute an Schulen passiert, ist der Untergang der Zukunft“

Ebba Bongartz ist aus Norddeutschland angereist. Die Fernsehjournalistin erzählt: „Wir haben damals gesehen, was gute Lehrer bewirken können. Es gab kein Oben und kein Unten, es herrschte eine Atmosphäre des Aufbruchs, des Miteinanders. Der Fokus lag auf Talenten, Kreativität wurde gefördert. Ich habe sehr davon profitiert.“ Was aktuell an (Gesamt-)Schulen geschieht, nennt sie den „Untergang der Zukunft“.

„Die Systeme sind heute zu groß und die Mischung stimmt nicht mehr“

Die anderen urteilen nicht ganz so vernichtend, aber die Gesamtschulen heute, da sind die vier sich einig, sind nicht, was sie damals waren. Die Systeme seien zu groß und die Mischung stimme nicht. Nirgendwo in Europa werde in Schulen so stark getrennt wie in Deutschland. „Und es werden viel zu viele pädagogische Säue durchs Dorf getrieben, statt die Lehrkräfte tun zu lassen, wofür sie da sind. Ständig neue Konzepte schreiben, die die gleichen Ziele haben wie die alten, da geht zu viel Zeit und Energie verloren“, klagt Ewa Kotzian-Mewes.

Übrigens: Eine feierliche Zeugnisübergabe, einen Abi-Ball oder auch nur Fotos, all das gab es beim Abi 1972 nicht. Das Zeugnis holte man im Sekretariat ab oder beim Tutor in der Kleingruppe und fertig. Eine Zeremonie: Das war den Pionieren zu gestrig.

Über 70 Ehemalige dabei – Gold-Abiturfeier 2028 für erste Fünftklässler geplant

Neun der Gold-Abiturienten sind zu dem Treffen am zweiten Weihnachtstag angereist, darunter nur ein Mann; trotz paritätischer Besetzung dereinst. Insgesamt folgten über 70 Ehemalige der Einladung der Schule und des Fördervereins. Darunter waren diesmal besonders viele der Fünftklässler, die ebenfalls 1969 gestartet waren. Ihr Gold-Abi soll 2028 groß gefeiert werden.