Gelsenkirchen. Sie kommen aus der ganzen Welt, haben bisher kaum eine Schule besucht. Ein Blick in eine Alphabetisierungs- und eine IFÖ-Klasse der Gesamtschule.

Am Whiteboard der Klasse von Sylvia Richartz sind der Wochentag, das Datum sowie „gestern“, „heute“ und „morgen“ notiert. Wir sind in einer Alphabetisierungsklasse für Flüchtlings- und Zuwandererkinder zwischen zehn und zwölf Jahren. Die 37-jährige Deutsch- und Spanischlehrerin, die auch in der Oberstufe unterrichtet, ist unübersehbar beliebt. Der Junge, der auf dem Flur noch eindrucksvoll tobend seine Energie demonstriert hat, sitzt lammfromm an seinem Tisch und beteiligt sich eifrig am Unterricht. Neun Schülerinnen und Schüler sind es heute.

Die Schicksale der Kinder sind kaum bekannt

Lesen und Schreiben lernen mit elf oder zwölf Jahren ohne nennenswerte Sprachkenntnisse: Wie geht das? Und warum können diese Kinder noch nicht schreiben und lesen? Die Schicksale ihrer Schützlinge kennt Sylvia Richartz nur ansatzweise. Bei der Diagnostik durch den Teamleiter ist kaum Zeit für eingehende Recherchen, es geht vor allem um die Eingruppierung der Internationalen Förderschüler, den notwendigen Förderbedarf, nicht um das Warum. [Lesen Sie dazu: Warum der Schulabschluss so extrem schwer ist]

Mehrsprachigkeit nutzen statt beharren auf ausschließlich Deutsch

Heute sind zwei Neue zum ersten Mal dabei, ein Geschwisterpaar, Iona (12) und Virgil (10) aus Rumänien. Auch Irinel (12) und Sonia (11) sind Geschwister, seit kurzem ist auch ihr Cousin in der Klasse. Und dann ist da noch Mykyta (10) aus der Ukraine, der erst seit drei Wochen in Deutschland ist, sowie der Italiener Armando (11), die Syrerin Ranim (13) und Polat aus Bulgarien. Armando hilft beim Übersetzen für die beiden Neuen.

Sylvia Richartz zeigt die Übersetzung der neuen Worte den Schülerinnen und Schülern in der Übersetzungs-App ihres Smartphones. Die allermeisten Unterrichtsmaterialien hat sie selbst erstellt.
Sylvia Richartz zeigt die Übersetzung der neuen Worte den Schülerinnen und Schülern in der Übersetzungs-App ihres Smartphones. Die allermeisten Unterrichtsmaterialien hat sie selbst erstellt. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

„Es ist ganz selbstverständlich hier, dass die Kinder einander helfen. Wir arbeiten mehrsprachig. Ich bin sicher, dass das besser funktioniert, als nur auf Deutsch zu beharren“, erklärt Sylvia Richartz. Auf dem Whiteboard notiert sie jetzt das Thema der Stunde: Bildung für nachhaltige Entwicklung. Mülltrennung war zuletzt aus dem Bereich ein Thema, heute geht es um Strom und Energie. Polat macht zuerst den Versuch, die Worte laut zu lesen. „Scht“, „Schtr“, „Schtr-omm“ – erarbeitet er sich das Wort. Die anderen folgen.

Die Smartphone-App liest bei Bedarf die Übersetzung vor

Damit jeder versteht, worum es geht, zitiert Richartz aus dem Smartphone-Übersetzer die Übersetzung für „Strom“ auf rumänisch, türkisch und ukrainisch. Arabisch lässt sie die Übersetzungs-App vorlesen. Im Regal an der Seite steht auch noch der Langenscheidt in vielen Sprachen. „Aber Wörterbücher nutzen wir erst viel später, wenn die Schüler lesen können. Es ist sehr schwierig für sie, Bücher mit so vielen Worten zu nutzen“, erklärt Richartz.

Sonia (11) schreibt sorgfältig die Worte vom Whiteboard ab. Lesen lernen in einer fremden Sprache ist mühsam, auch Sylvia Richartz weiß das.
Sonia (11) schreibt sorgfältig die Worte vom Whiteboard ab. Lesen lernen in einer fremden Sprache ist mühsam, auch Sylvia Richartz weiß das. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Nun geht es darum, Worte für Dinge zu finden, die Strom benötigen. Irinel zeigt auf die Decke, kennt und sagt auch das Wort Lampe. Handy, Computer, Tablet – diese Beispiele kommen schnell. Über den Beamer hat Richartz eigentlich auch Bilder von Küchengeräten und anderen Alltagsdingen gezeigt. Die Wortfindung dazu braucht aber eine Weile. Manchmal helfen Gesten; der Klassen-Besen, verbunden mit einem Summen etwa, führt zum Wort Staubsauger.

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Ein Jahr bleiben die Kinder in der Regel in der Alphabetisierungsklasse, maximal eineinhalb. Danach geht es für zwei Jahre in eine „normale“ Internationale Förderklasse. Und erst danach – frühestens, wie Sylvia Richartz nach acht Jahren Erfahrungen an der Schule gelernt hat – steht ein Wechsel in eine Regelklasse an. Früher schaffe es einfach kaum jemand, bedauert sie. „Was mich freut ist, dass heute deutlich weniger Wechsel stattfindet als noch vor acht Jahren, als ich in den IFÖ-Klassen angefangen habe. Da kam es immer wieder vor, dass Kinder ein paar Tage da waren und dann wieder wegblieben. Das ist heute deutlich konstanter, und dadurch sind Lernfortschritte besser möglich. Wenn die Hälfte fehlt, kann ich nicht viel Neues durchnehmen.“

Mathe funktioniert auch ohne Sprachkenntnis gut, auch dank Händen und Füßen

Jungen und Mädchen aus aller Welt lernen in der IFÖ-Klasse bei Bianca Schiller an der Gesamtschule Ückendorf.
Jungen und Mädchen aus aller Welt lernen in der IFÖ-Klasse bei Bianca Schiller an der Gesamtschule Ückendorf. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Szenenwechsel: Matheunterricht in der Internationalen Förderklasse von Bianca Schiller. Zwischen zehn und 13 Jahre jung sind die Schülerinnen und Schüler aus dem kurdischen Teil Syriens, der Türkei, Portugal, Kroatien und Bulgarien. Es ist die dritte der täglich vier Unterrichtsstunden am Tag. Täglich mehrere Stunden Deutsch, vier Mathe-Stunden die Woche plus Technik und Sport stehen auf dem Stundenplan der Klasse. Es gibt nur Tests in Mathe, keine benoteten Arbeiten.

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Grundschulstoff für Zehn- bis 13-Jährige

Mathe funktioniere recht gut auch ohne Sprachkenntnisse, auch mit Händen und Füßen, versichert Bianca Schiller. Sie arbeitet heute mit dem Zahlenstrahl, es geht um die Zuordnung von Einern und Zehnern. Wo zwischen vier und zehn auf dem Zahlenstrahl muss die sechs hin? Wo zwischen zehn und 30 die 15? Es ist eher Grundschulstoff als Stoff für Fünftklässler. Aber es ist Fachunterricht, im, neben Technik, Deutsch, Sport und Kunst, einzigen Fachunterricht für die Internationalen Förderschüler.

Marin (11) (am Whiteboard) ist gut in Mathe. Den aktuellen Stoff kann die gebürtige Syrerin längst. Das gilt aber nicht für alle Klassenkameraden, weiß Lehrerin Bianca Schiller.
Marin (11) (am Whiteboard) ist gut in Mathe. Den aktuellen Stoff kann die gebürtige Syrerin längst. Das gilt aber nicht für alle Klassenkameraden, weiß Lehrerin Bianca Schiller. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Manche schaffen den Wechsel schon nach einem Jahr

Bianca Schiller unterrichtet diese Kinder gern, das spüren auch die Schüler selbst. Nach ihrer Erklärung, was zu tun ist, fragt sie „Verstanden“? Und reckt den Daumen abwechselnd hoch und runter. Mehr als die Hälfte der Schülerinnendaumen gehen hoch, die anderen runter. Die 43-Jährige beginnt erneut zu erklären, was die Aufgaben sind. Jetzt sind alle Daumen hoch, ergänzt durch Zwischenrufe von allen Seiten, die nicht immer einen Beitrag zum Unterricht leisten. Das Stillsitzen fällt einigen sichtlich schwer, die beiden Mädchen in der ersten Reihe aber sind konzentriert bei der Sache. Marin (11) vor einem Jahr aus Syrien gekommen, ist schüchtern, aber in Mathe schon recht weit.

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„Einige werden im nächsten Jahr vielleicht schon in Regelklassen wechseln können“, hofft Bianca Schiller. Nach Jahren reiner IFÖ-Arbeit unterrichtet auch sie wieder in Regelklassen. „Ich wollte einfach mal wieder eine Klasse länger begleiten, mal auf Klassenfahrt mit ihnen gehen“, gesteht sie. Auch wenn die Arbeit mit den internationalen Klassen weiterhin Spaß mache.

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