Gelsenkirchen-Erle. . Der Sprachförderstandort der Gesamtschule Erle in Gelsenkirchen arbeitet seit dem Sommer. Das Modell funktioniert sehr gut. Wie, lesen Sie hier.
Andreas Lisson wurde zu seinem Glück eigentlich gezwungen. Glück ist vielleicht auch ein großes Wort für diesen Fall, der so eindeutig nicht ist. Es geht um den „ausgelagerten“ Sprachförderstandort seiner Gesamtschule Erle an der Surressestraße. Dort lernen seit dem Sommer 2018 ausschließlich Kinder in internationalen Förderklassen (Ifö). Kinder, die neu zugewandert sind und vor allem aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse noch nicht am Regelunterricht teilnehmen können.
Der überzeugte Gesamtschulfan Lisson war mehr als skeptisch, als es hieß, man müsse Ifö-Kinder an einem eigenen Standort ohne direkten ständigen Kontakt zu den Regelschülern beschulen. Er reiste mit Vertretern von Stadt und Schulaufsicht nach Hagen, wo so ein Sprachförderstandort als „Best Practice“ bereits geübt und vorgestellt wurde. Dort kamen die Lehrer von verschiedenen Schulen. „Das ging für mich gar nicht!“ erinnert sich Andreas Lisson.
Anbindung an das Hauptgebäude trotz Entfernung
Er hat die Idee anders umgesetzt. Und es funktioniert sehr gut, viel besser, als er zu hoffen gewagt hätte. „Hier unterrichten ausschließlich Lehrer unserer Gesamtschule, so dass ein richtiges „Wir“ entstehen kann. Und wir binden die Schüler soweit irgendmöglich an unser Hauptgebäude an“, erklärt Lisson. Was bei einer Entfernung der Standorte von mehr als zwei Kilometern eine sportliche Herausforderung ist. Eine Herausforderung, die das Kollegium offenkundig bestens meistert. Sport- und Kunst werden so schnell wie möglich mit Regelklassen gemeinsam unterrichtet, jeder Schüler bekommt einen individuellen Stundenplan nach seinen Fähigkeiten – auch das eine l ogistische Herausforderung auf höchster Stufe.
90 Kinder aus zwölf Nationen lernen gemeinsam
Als wir, Redakteurin und Fotograf, die ehemalige Michael-Ende-Förderschule an der Surressestraße betreten, fällt auf, wie ruhig es hier ist. 90 Kinder aus zwölf Nationen lernen in sechs Klassen(zum Glück kleinen Klassen mit 15 Kindern). Die Gruppen lernen in drei Altersklassen, und zwar mit- und voneinander. Nennenswerte Konflikte, Probleme – Fehlanzeige. Weder in der kleinen Pause, die gerade beginnt, als wir eintreten, noch später in der großen, in der syrische, rumänische und albanische Kinder friedlich mit den bulgarischen, irakischen, marokkanischen und polnischen über den Schulhof toben.
Handfeste Unterstützung von der Tafel
Damit das so funktionieren kann, muss das Kollegium der Gesamtschule einen ordentlichen Kraftakt hinlegen. Beim Stundenplan, beim Unterrichtskonzept, bei der Logistik, bei allem. Handfeste Unterstützung in den Pausen bekommt das Team von der Tafel, die die Schule mit Pausenbroten, Obst und Gemüse versorgt.
Sarah Nötzold unterrichtet in einer Gruppe mit Schülern im Alter von elf und zwölf Jahren. Drei von ihnen sind überhaupt noch nicht alphabetisiert, haben nie zuvor eine Schule besucht. Und damit fehlt ihnen eine Referenzsprache, die beim Deutschlernen helfen könnte. Bis sie lesen und schreiben können, müssen Bilder und das Online-Wörterbuch, das Vokabeln auch ausspricht, bei Bedarf als Material genügen. „Aber zum Teil lernen sie jetzt auch privat arabisch, das hilft“, weiß die junge Lehrerin. Worte und Sätze mit Bezug zu Ostern werden hier gerade eingeübt. Mit Bildkarten und malend.
Aufklärung findet in den meisten Familien nicht statt
Nebenan ist gerade eine Stunde Biologie-Unterricht mit den ältesten an der Schule beendet. Das Tafelbild zeigt, dass es um Hormone ging und Sexualkunde. Der Lehrer hält ein Lehrbuch „Sexualkunde für interkulturelle Gruppen“ in der Hand. „Da sind die Schüler sehr interessiert. Aufklärung gibt es bei den meisten überhaupt nicht, die sehen hier zum ersten Mal einen Tampon und hören vom Frauenarzt.“
Für arabische Kinder sind Umlaute ein großes Problem
Bei Natalja Wenn in der Klasse lernt die mittlere Altersgruppe. Auch hier wird in verschiedenen Lernstufen unterrichtet. Die einen üben eine schriftliche Bildbeschreibung eines Fotos auf dem Whiteboard, die anderen ein Diktat. Als wir uns auf Englisch vorstellen wollen, schreitet sie sofort ein. „Hier ist Deutschunterricht, nicht Englisch.“ Das erklärte Ziel der Lehrerin: „Die Schüler müssen auch in der Schriftsprache sicher werden, um später dem Regelunterricht gut folgen zu können.“ Wobei es bisweilen sehr schwierig sei, da zum Beispiel Kinder mit arabischem Hintergrund Vokale ganz anders hören, extreme Probleme mit Umlauten haben. Trotzdem sind auch hier alle eifrig bei der Sache. Wafa, die erst im November nach Deutschland kam, spricht schon erstaunlich gut deutsch.
Fließender Übergang in die Brückenklasse
Sie ist vermutlich schon in absehbarer Zeit eine Kandidatin für die Brückenklasse. Die ist am Hauptstandort der Gesamtschule angesiedelt. Wer sprachlich und von der schulischen Eingewöhnung weit genug ist, kann jederzeit hierhin wechseln, um regelmäßig an ausgewähltem Fachunterricht in Regelklassen teilzunehmen. Förderung passgenau nennt man sowas wohl. Ein Verfahren, das so an den meisten Schulen gar nicht möglich ist. Weil die Klassen viel zu voll sind, als dass es Platz für fließende Übergänge gäbe. Und die Förderung endet nicht mit dem Übergang in Regelklassen, sondern wird fortgesetzt.
Ideal wäre ein Start mit kleinen Fünfer-Klassen
Um Missverständnisse auszuräumen: Auch die Gesamtschule Erle muss Mehrklassen bilden, um den Übergang von Ifö-Schülern in Regelklassen managen zu können. Diesmal wird es in drei Jahrgängen sein müssen. „Wenn wir die fünften Klassen nicht so voll machen müssten, sondern nach und nach mit den Ifö-Kindern auffüllen, wäre die Integration viel einfacher,“ klagt Andreas Lisson. Es könnte so vieles leichter sein: Mit mehr Lehrern und mehr Räumen und wenn andere Schulformen wie die Gymnasien auch eingebunden wären. Aber: „Über die Stadt Gelsenkirchen können wir nicht klagen. Die unterstützt uns wirklich immer wo es nur geht.“