Gelsenkirchen-Ückendorf. Nach Ückendorf fließen Millionen Fördermittel. Das Gelsenkirchener Quartier ist im Umbau und erfindet sich neu. Manch alte Probleme bleiben.

Drei Geschäftsleute, eine Hoffnung: „Hier ist viel im Wandel. Und so günstig wie hier kommt man später nicht mehr an solche Läden“ ist der Betreiber des Tanz-Clubs „Konkurenz“ sicher. Die Lage, vor allem aber die Veränderungen an der Bochumer Straße haben ihn beflügelt, hier sein Glück mit einer Kneipe zu suchen. Ähnlich argumentierte Carsten Becker, einer der Chefs des IT-Sicherheitsexperten „XignSys“ mit Sitz in Ückendorf: Ein Viertel im Umbruch, günstige Büromieten, dazu gefühlt Aufbruchsstimmung rundum, – die Mischung, diese urbane Kiez-Atmosphäre, habe die Startup-Unternehmer vor wenigen Jahren überzeugt, an die Bochumer Straße 139 zu ziehen. Und auch Dirk Oehlerking tickt ähnlich.

Gelsenkirchener ist weltweit mit seinen Custom-Bikes im Geschäft

Dirk Oehlerking hat den Komplex, in dem er Wohnungen und Werkstatt eingerichtet hat, an der Bochumer Straße gekauft.
Dirk Oehlerking hat den Komplex, in dem er Wohnungen und Werkstatt eingerichtet hat, an der Bochumer Straße gekauft. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Er betreibt ein paar Häuser weiter seine höchst exklusive Motorradmanufaktur „Kingston Custom“ in Ückendorf. Sein Atelier ist Showroom, Wohlfühloase für große Jungs und Bauplatz für Stilikonen, seine Werkstatt wurde so ein ganz besonderer Ort. „Ich glaube an diesen Stadtteil. Erst recht an die Bochumer Straße auf diesen 800 Metern. Jeder, der hier aufschlägt, hat immer etwas Negatives gelesen oder gehört. Die Leute sind dann ganz überrascht, wenn sie das hier alles sehen“, betonte er vor anderthalb Jahren, als er „Kingston Custom“ vorstellte. Drei Beispiele, die zeigen: Die Bochumer Straße ist im Wandel, legt das alte Image ab. Das Problem: Sichtbar wird das oft erst auf den zweiten Blick. Und: Manche Probleme verlagern sich in Nebenstraßen, andere lassen sich schwer beheben.

An die fünf Millionen Euro fließen aus verschiedenen Fördertöpfen

Eine Fahrt über die Bochumer Straße zwischen Justizzentrum und Virchowstraße ist immer noch wie eine kleine Zeitreise: Einerseits der Verfall der Jahrzehnte, bergbauschiefe Häuser, zugeklebte Schaufenster, Zeugnisse halbherziger Erneuerung. Andererseits frisch renovierte Fassaden, eingerüstete Gebäude, geschäftige Betriebsamkeit. Die Stadttochter GGW zieht den Neubau „Virchowbogen“ hoch, der Komplex Bochumer Straße 96, eines der ersten sanierten Gebäude, beheimatet neben dem Jugentreff „Ücky“ Studierende und Kreative, die sich hier günstig einmieten konnten. Vorbei geht es an Neueröffnungen und Projekten, die längst einen festen Platz in Ückendorf haben, die für Wandel und stete Veränderung stehen: Die Mobile Kita samt Sportbude, „Tom’s Corner“ oder das „1Null7“, zwei äußerst szenekompatible Läden, dann die „Trinkhalle am Flöz“, eine Art Stadtteil-Kneipe für alle, der Kleine Kiez mit Start-Up-Hof und Medienproduktionsfirma, dazwischen das „Haus Reichstein“ als NRW-Modellhaus für die Sanierung von Gründerzeitimmobilien. Und natürlich das Vorzeigeprojekt: die Heilig-Kreuz-Kirche.

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Ein monumentales Denkmal: Die renovierte und zum Veranstaltungsort umgebaute Kirche Heilig Kreuz und die Bochumer Straße.
Ein monumentales Denkmal: Die renovierte und zum Veranstaltungsort umgebaute Kirche Heilig Kreuz und die Bochumer Straße. © www.blossey.eu | Hans Blossey

14 Millionen Euro fließen allein hier in den Umbau zur Kulturspielstätte. Es ist das Vorzeigeprojekt der Stadterneuerung, eines von etlichen Millionen-Projekten. 1,5 Millionen Euro aus vier verschiedenen Fördertöpfen sind bislang für verschiedenen Projekte ausgezahlt worden, an die 5 Millionen sollen es werden. „Wir schöpfen sämtliche Städtebauförderungsmöglichkeiten aus. Was wir allein hier generieren, haben andere Städte nicht im gesamten Stadtgebiet“, sagt SEG-Geschäftsführerin Helga Sander,

Nord-Süd-Finanzierung

Der Stadtumbau in Ückendorf wird auch mit Erlösen aus dem Stadtnorden finanziert: Rund 10 Millionen Euro aus dem Grundstücksverkauf am Buerschen Waldbogen fließen in Erneuerungs-Projekte an der Bochumer Straße, rechnete die SEG-Geschäftsführerin.

Gleichzeitig investieren Stadt und SEG auch im Neubaugebiet. Die Erschließung des Buerschen Waldbogens kostet über 13 Millionen Euro.

Verwaltung und Politik, aber vor allem auch die Stadterneuerungsgesellschaft SEG haben die Revitalisierung des Quartiers ab 2012 in Angriff genommen, Fahrt auf nahm die Sache vor gut fünf Jahren. Allein der Zeitrahmen zeigt: Stadterneuerung braucht langen Atem, vieles entwickelt sich im Tun. Das Handlungsprogramm ist auf rund 15 Jahre ausgelegt. Im Kern geht es um ein 30 Hektar großes Gebiet mit rund 2800 Einwohnern aus gut 35 Nationen. „In den vergangenen Jahren ist in dieser Umgebung viel geschehen“, bilanziert Oberbürgermeisterin Karin Welge. „Ich finde, eine solche Aufbruchsstimmung ist wichtig für unsere ganze Stadt. Das Gesicht dieses Stadtteils wird sich nach und nach verändern. Probleme werden beseitigt, neues entsteht.“

Die Bochumer Straße stand lange im Fokus der Ordnungshüter

Noch kann man an manchen Häusern die Zeichen der Verwahrlosung deutlich sehen – aber auch, wie attraktiv die Fassaden einst waren.
Noch kann man an manchen Häusern die Zeichen der Verwahrlosung deutlich sehen – aber auch, wie attraktiv die Fassaden einst waren. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Rückblende: Um 2015 kochte die Stimmung in Ückendorf hoch. Die Umgebung der Bochumer Straße galt als Brennpunkt, manche sahen hier gar eine No-Go-Area, in der es mehrfach zu Übergriffen auf Polizeistreifen gekommen war. Das Viertel fiel zeitweilig durch Straßenkriminalität auf, Gruppen gaben hier offenbar den Ton an, die durch fehlenden Respekt gegenüber Obrigkeiten, Abschottung und aggressives Auftreten auffielen. Die Lage, so die Überzeugung vieler, habe sich seit Beginn der EU-Osterweiterung im Jahr 2004 deutlich verschlechtert. Mit Schrottimmobilien und Mietern, die sich nicht unbedingt an gängige Regeln des Zusammenlebens halten, wurde Kasse gemacht. Wobei: Etliche Akteure vor Ort, vor allem aus der Kreativszene, fanden die Beschreibung nie treffend, die geäußerten Sorgen medial übertrieben. Immerhin: der Fokus richtete sich noch einmal stärker auf Ückendorf. Auch die Staatsgewalt reagierte, demonstrierte Stärke bei Razzien und Kontrollen. Die konkreten Funde und Festnahmen fielen überschaubar aus. Doch der Druck zeigte Wirkung. Ein, zwei Läden, die als Problemzonen ausgemacht worden waren, schlossen.

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Die GGW investiert in einen Neubau an der Ecke Virchowstraße. Mitte 2022 soll er bezugsfertig sein.
Die GGW investiert in einen Neubau an der Ecke Virchowstraße. Mitte 2022 soll er bezugsfertig sein. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

„Kultur, Wissenschaft und Bildung“ – auf diese Faktoren setzt die Stadt bei der Transformation des Quartiers im Schlagschatten des Wissenschaftsparks. Vor allem aber setzt sie auf intensive Begleitung durch das Stadtteilbüro vor Ort und massive Intervention durch die SEG. Die Stadterneuerungsgesellschaft hat 38 Problemimmobilien an der Bochumer Straße gekauft. Acht wurden an Privatinvestoren veräußert. „Wir können uns als SEG nicht überall selbst agieren“, sagt Sander. Ihr Schwerpunkt liegt auf Abbruch und Sanierung der Objekte, auf der Entwicklung eines „jungen Quartiers“. Die Grundidee ist natürlich, dass private Immobilienbesitzer nachziehen, ebenfalls investieren, Fassaden sanieren, Wohnraum optimieren. Teilweise ist das geschehen, an der Bochumer Straße 164/166 steht zudem ein Investor in den Startlöchern und hat für sein Vorhaben bereits eine Baugenehmigung.

GGW baut den Neubaukomplex Virchowbogen

Weiter ist Gelsenkirchener Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft. Über 5,3 Millionen Euro investiert das Wohnungsunternehmen an der Bochumer Straße, auch weil die GGW hier ein Zeichen für den Stadtumbau setzen will. „Zwei absolute Schrotthäuser wurden hier erworben und abgerissen“, so Geschäftsführer Harald Förster. „Ich bin sicher, die Wohnungen werden eine hohe Nachfrage haben.“