Gelsenkirchen. Karin Welge ist seit November 2020 OB in Gelsenkirchen. Im Interview nimmt sie Stellung zur Kritik an ihrer Person und spricht über ihre Visionen
Seit sieben Monaten ist Karin Welge Gelsenkirchens Oberbürgermeisterin. Die Amtsgeschäfte von ihrem Vorgänger Frank Baranowski, der die Stadt ununterbrochen 16 Jahre lang regierte, ausgerechnet in einer beispiellosen Pandemie zu übernehmen, machte es der 59-Jährigen sicher nicht einfacher, sich den Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchenern bekannt zu machen. Im großen WAZ-Interview mit Redaktionsleiter Sinan Sat und Gordon Wüllner-Adomako spricht die Rathauschefin nun über Phrasendrescherei und Politiker-Stile, über die intensive Arbeit hinter den Kulissen, einen konfrontativen Stadtrat und ihre Ideen für Gelsenkirchen.
Frau Welge, vom Schalke-Abstieg bis zur antisemitischen Demo am 12. Mai war Gelsenkirchen zuletzt erneut mit Negativ-Meldungen bundesweit in den Schlagzeilen. Damit sich dieses Bild wandelt, bräuchte es eine neue Erzählung für diese Stadt. Sie haben doch sicher eine Idee, oder?
Ich habe viele Ideen, aber Marketing ohne Inhalt ist vollkommen untauglich. Ich bin kein Typ für Propaganda-Sprüche und große Ankündigungen. Der Fokus muss erst einmal darauf liegen, dass ein nachhaltiger Strukturaufbau in Gelsenkirchen gelingt, der wirtschaftspolitische Investitionen begünstigt. Durch die Kollateralschäden dieser Pandemie wird das nicht einfacher. Und trotzdem haben wir in den vergangenen Monaten viel geschafft. Wir haben gepowert auch für die Bildungsoffensive. Nun gilt es, möglichst viele dazu zu motivieren, an der Erfolgsstory von Gelsenkirchen mitschreiben zu wollen. Unsere Stadt hat das Potenzial dazu!
„Gelsenkirchen, die Bildungsstadt?“
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Das wäre mir zu platt. Aber ja: Wenn es um die Frage geht, wie wir Gelsenkirchen sattelfest für die 20er-Jahre machen, dann ist Bildung ein zentrales Thema. Viele der Zuwanderer, die in den letzten Jahren zu uns gekommen sind, haben nicht das Staats- und Ordnungsverständnis, das wir haben. Aber warum sind denn Leute anfällig für Verhaltensweisen, die unserer Werteordnung nicht entsprechen? Weil wir sie nicht erreichen. Und dieses Thema müssen wir auch bildungspolitisch anpacken.
Sie setzen in der Bildungspolitik also zu dem ersten großen Wurf Ihrer Amtszeit an?
Über 30 Jahre wurde keine Schule gebaut, wir haben jetzt ein sehr ambitioniertes Schulbauprogramm auf den Weg gebracht. Parallel dazu arbeiten wir daran, aus dem Fünf-Standorte-Programm des Bundes den Bildungscampus wachsen zu lassen. Wir haben durchaus junge Menschen, die Gefahr laufen, abzudriften. Wir haben die Chance, sie mitzunehmen und zu klugen und selbstbewussten Mitgliedern unserer Stadtgemeinschaft zu machen.
Wie soll das gelingen?
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Meine Idee ist: Wir binden in der Berufsausbildung alle mit ein – von der Arbeitsagentur zu den IHKs, von den Ministerien, Gewerkschaften und Schulleitern der Berufskollegs bis hin zur Hochschule und den großen Arbeitgebern unserer Stadt. Viele Gespräche haben wir bereits geführt. Und wir müssen es schaffen, eine Brücke zum großen Thema Wasserstoff herzustellen. Wir haben in der Stadt mit BP, Uniper und Zinq ideale Voraussetzungen und wichtige Stakeholder, wir haben den Hafen und die Westfälische Hochschule. Wenn wir diese Potenziale richtig nutzen, schaffen wir es, dass die Jobs der Zukunft in Gelsenkirchen entstehen. Nichts ist wichtiger als gute Arbeitsplätze für unsere Stadt.
Hinzu kommt: Wir kämpfen derzeit sehr engagiert um die Ansiedlung eines neuen, größeren Standortes der Hochschule für Polizei und Verwaltung. Das ist im Hintergrund gelaufen, weil es ein sehr harter Wettbewerb und ein Vergabeverfahren ist, das ich gerne für meine Stadt gewinnen will.
Sie sind nicht der Typ dafür, Kämpfe auf öffentlicher Bühne auszutragen, oder?
Ja und nein. Eine transparente, anschauliche Politik ist unverzichtbar. Aber es gibt Dinge, die muss man vorbereiten. Wenn ich in einem internen Vergabeverfahren bin, dann will und kann ich das noch nicht offen kommunizieren, sonst verspielen wir unsere Chancen. Und wenn es Zeit zu kämpfen ist, dann wird auch öffentlich gekämpft.
Dennoch herrscht sowohl in den Kommentarspalten im Netz als auch in den politischen Fraktionen der Eindruck, dass Sie sehr im Verborgenen arbeiten. „Wo ist Frau Welge?“ – diese Frage hört man oft. Nicht zuletzt hat man Sie bei der Gedenkveranstaltung vor der Neuen Synagoge vermisst...
Auf Mallorca oder in einem Hotel war Frau Welge sicher nicht. Ich habe eine Woche Urlaub gemacht, der für meine Familie reserviert war. Meine Familie hat mir in einem langen Wahlkampf und meiner intensiven Arbeit der letzten Monate viel Kraft gegeben, aber auch viel zurückstecken müssen. Die Woche nach Muttertag war lange meiner Familie versprochen, meinen beiden Töchtern, die im Süden Deutschlands wohnen und meiner Mutter, der ich so viel zu verdanken habe. Ich stand kontinuierlich mit der Polizeipräsidentin und der jüdischen Gemeinde in Kontakt. Es ist richtig: Eine Bürgermeisterin gehört zu so einer Veranstaltung, ich habe sicherlich auch mit mir gehadert. Richtig ist auch, dass Politik auch nach symbolträchtigen Zeichen verlangt. Aber es wird ungleich wichtiger sein, den Kampf gegen Antisemitismus jeden Tag weiterzuführen. Das will und werde ich entschlossen tun!
Es ist nicht nur ihre Abwesenheit bei der Solidaritätsveranstaltung. Viele Menschen haben sich auch vorher gefragt, warum Sie nicht mehr Präsenz in der Stadt zeigen.
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Zunächst einmal haben wir eine Pandemie. Und wir haben in den vergangenen Monaten vor allem intern sehr hart unter den besonderen Coronabedingungen für diese Stadt gearbeitet. In der Bevölkerung scheint weiterhin das alte Bild eines Oberbürgermeisters vorzuherrschen, bei dem die Repräsentationsaufgabe im Mittelpunkt steht. Das gehört natürlich dazu. Aber ich will als OB nicht nur freundlich im Stadtbild wahrgenommen werden, sondern möchte an anderen wichtigen Positionen die Stimme für Gelsenkirchen mit Beharrlichkeit und Überzeugungskraft erheben, für eine Stadt, die bei Bund und Land ohnehin unter dem Radar läuft. Ich zeige Präsenz in den Ministerien, dem Städtetag und anderen Gremien. Das bedeutet viel Anstrengung, Zeit und Engagement. Ist nicht sonderlich laut, sieht man manchmal nicht, ist aber effektiv und notwendig für eine gute Zukunft unserer Stadt.
Trotzdem hat man den Eindruck, dass es Ihnen zugutekommt, dass Sie in der Corona-Zeit weniger rote Bändchen durchtrennen und Hände schütteln müssen.
Nein, ich mache das sehr gerne, weil es unverzichtbar ist, die Stadt zu schmecken, zu riechen und zu fühlen. Mir fehlen die Begegnungen sehr. Nur bin ich in der Corona-Zeit doch vielmehr dann ein Vorbild, wenn auch ich mich, wie fast alle Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener an die Coronaschutzregeln halte.
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Überall sein Gesicht zu zeigen ist das eine, eine öffentlichkeitswirksame Erzählung der eigenen Arbeit das andere.
Ich werde mich um meine Kommunikation noch mehr bemühen. Das nehme ich gerne mit. Ich sage aber auch deutlich: Obwohl ich zwei wirklich tolle Kinder großgezogen habe, die meine größte Lebensleistung sind, habe ich nie mit ihnen geprahlt. Will heißen: Was ich unter Erfolg verstehe, mache ich nicht davon abhängig, dass ich jeden Tag eine tolle Schlagzeile liefere. Ich bin eher der Typ, der auf das Ergebnis wartet und es dann erst kommuniziert. Ich hoffe, das führt dazu, dass viele Menschen in fünf Jahren sagen: Es hat sich wirklich gelohnt, ihr das Vertrauen geschenkt zu haben.
Oberbürgermeisterin Karin Welge über die Entwicklung der Innenstadt und die Politik in Gelsenkirchen
In der letzten Sitzung des Stadtrates wurde wieder sehr emotional diskutiert und vieles persönlich genommen. Sie sagten irgendwann ins Mikrofon: „Ich frage mich, wie wir in dieser Stadt etwas voranbringen können, wenn wir so viel Energie auf Petitessen vergeuden.“ Lähmt die Politik Gelsenkirchens Entwicklung?
Zunächst unterstelle ich jedem, der sich politisch engagiert – insbesondere, wenn es so zeitintensiv ist wie bei den Stadtverordneten – dass er es macht, um diese Stadt im Positiven zu gestalten. Der Rat hat engagierte, kluge Köpfe, ein großes Netzwerk und auch ein Bewusstsein für das, was wir hier vor Ort wirklich anpacken müssen. Wenn wir diese Kraft zusammen stärker bündeln könnten, wäre das ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Ich habe allerdings auch durch Menschen in meinem privaten Umfeld lernen müssen, was es bedeutet, sich das Leben schwerer zu machen, als es eigentlich sein müsste. Ich würde mir wünschen, dass sich auch so manch einer im Rat von seinem Ballast trennen würde, der sich in den letzten Jahren aufgetürmt hat und sich stattdessen auf das gemeinsame Engagement für das gute Ergebnis fokussiert. In den vergangenen Jahren hatte sich im Rat der Stadt eine Stimmung eingestellt, die sehr von Konfrontation geprägt war. Ich bin überzeugt: das tut keiner Stadt und schon gar nicht einer Stadt wie Gelsenkirchen gut. Aber ich schaue zuversichtlich nach vorne.
Nach der geringen Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl wurde viel darüber geredet, wie man die Stadtbevölkerung mehr in politische Geschehen einbeziehen kann. Nun hat es der Stadtrat nicht mal geschafft, sich auf ein Rats-TV zu einigen. Schon ein Stück mehr Transparenz ist der Gelsenkirchener Politik offenbar nicht zuzumuten. Sie haben keine Angst vor einer Kamera, oder?
Selbstverständlich nicht. Und ich finde auch, dass sich Politik im Jahr 2021 transparenter machen müsste. Lassen Sie uns sehen, wie sich die Idee Rats-TV weiterentwickelt, wenn wir es geschafft haben uns aus der Corona-Falle zu befreien. Ich bin sehr für eine offene Kommunikation zwischen allen, am Stadtgeschehen beteiligten, Gruppen und Menschen. In den vergangenen Wochen habe ich zum Beispiel zu Videokonferenzen mit Vertreterinnen und Vertretern aus Verbänden und Organisationen sowie Kunst und Kultur eingeladen, zu der auch die Öffentlichkeit in Form der Medien eingeladen war. Weitere Runden werden folgen und hoffentlich auch schon sehr bald wieder als Präsenzveranstaltungen.
Sie hatten angekündigt, nach der Amtsübernahme eine Innenstadt-Werkstatt zu gründen, um an der Zukunft der City zu arbeiten. Wann finden erste Gespräche statt?
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Es wird nicht nur darum gehen, alle Akteure an einen Tisch zu bekommen. Wir müssen eine Gruppe von Kreativköpfen vereinen, die einmal ganz anders über die Stadt nachdenkt. Ein Citymanager oder eine Citymanagerin allein reicht da nicht aus. Mein Wunsch ist, mich hier Anfang des nächsten Jahres aktiv auf die Suche zu machen.
Haben Sie selbst auch schon konkrete Ideen für die City?
Wir müssen die Innenstädte von morgen insgesamt neu denken. Schön wäre ein Ort des demokratischen Dialogs, wo man begegnen und auf freundschaftliche Weise fetzen kann. Wie wär’s mit einer Politkneipe? Außerdem lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie attraktives, junges Wohnen und Arbeiten in der Stadt entstehen kann. Wir haben in Gelsenkirchen die gute Situation, dass wir mit unterschiedlichen Stadtkernen ganz verschiedene Themen spielen können. Das ist ein echtes Pfund! Kurzfristig unterstützen wir den Einzelhandel unserer Stadt ganz konkret mit dem Programm „GE startet durch“ und der Subventionierung der Stadt-Gutscheine, die wir schon bald vorstellen werden.
Ihre Möglichkeiten, so einen Prozess voranzutreiben, sind begrenzt, wenn man sich die Eigentümerverhältnisse in der Innenstadt anschaut…
Die Eigentümerstruktur ist in der Tat ein großes Problem in Gelsenkirchen. Da ist nicht nur die geringe Eigentumsquote. Ein Teil der Kapitalanleger ist weit weg und hat keine Identifikation mit dieser Stadt und kommt sicher nicht direkt, wenn die Oberbürgermeisterin anruft. Mein Ziel ist: Es wird so viel in der Innenstadt passieren, dass auch diese Eigentümer mitmachen wollen. Solange sie über irgendwelche Billigmärkte noch auskömmliche Nettoerträge erhalten, bleibt es schwierig.
Könnte eine autofreie Innenstadt dabei helfen?
Es ist ein Thema, das die Herzen dieser Stadt zerreißt. Ich glaube: Die Innenstadt kann nur in Teilen und nicht gänzlich autofrei werden. Aber auch dieses Thema können wir weiter diskutieren.
Gelsenkirchen veröffentlicht weniger Corona-Infos als andere Städte. So erklärt OB Welge das:
Bis heute veröffentlicht die Stadtverwaltung keine regelmäßigen Infektionszahlen aus den Stadtteilen, obwohl viele Menschen aus der Stadt nach dieser Information verlangen. Warum?
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Es hat nichts mit mangelnder Transparenz zu tun, sondern es ist die Entscheidung eines überlegten Krisenmanagements. Es gibt bei Corona natürlich einen extremen Informationsbedarf. Aber dass sich die Leute morgens die stadtteilscharfen Corona-Zahlen anschauen und deswegen vielleicht die Entscheidung treffen, heute nicht das Haus zu verlassen: Das macht mir Sorge. Wir wollen schließlich keine vorschnellen Stigmatisierungen, bevor wir konkrete Lösungen anbieten können. Deswegen waren wir nur in dieser Frage zurückhaltender.
Aus vielen Rathäusern war in den vergangenen Wochen laute Kritik an der Corona-Politik zu hören. Aus Gelsenkirchen nicht. Sind Sie zufrieden mit dem NRW-Krisenmanagement?
Nein, das unberechenbare Hin-und-Her bei den Corona-Regeln setzt die Menschen unter Stress. Das ärgert mich maßlos. Ich bin von der Gesamtstrategie nicht immer überzeugt. Wir unterliegen als Kommune einer heillosen, wechselnden Regelungsdichte und teils aktionistischer Politik.
Was ärgert Sie besonders?
Ein Beispiel: Wir hatten Bundeskanzlerin Merkel Mitte April bei einer Videoschalte des Deutschen Städtetags zu Gast. Dabei sagte Sie noch einmal fest zu, dass Ende Mai, spätestens Anfang Juni, zehn Millionen Impfdosen pro Woche erreicht werden. Und jetzt haben wir die Meldung bekommen, dass es doch noch mal einige Wochen knapp wird. Das sorgt natürlich für neuen Frust und Enttäuschung. Nicht nur wie in Gelsenkirchen sind mit den Nerven mittlerweile durch. Die Öffnung der Außengastronomie gibt unserer Stadt nun zumindest ein bisschen Luft zum Atmen.
Sind Sie bereits geimpft?
Nein, ich erwarte in Kürze hoffentlich meine Erstimpfung.
Und was machen Sie zuerst, wenn diese Pandemie endlich vorbei ist?
Laut und viel tanzen (lacht). Egal zu welcher Musik – Punk, Heavy-Metal, auch mit Kuschelrock bin ich vertraut. Nur Schlager geht nur im Stadion, bei richtig guter Gesellschaft.