Gelsenkirchen. Schalke ist der Kitt der Gelsenkirchener Gesellschaft, die Projektionsfläche für die Träume der Menschen. Das ist der Mythos vom Schalker Markt.
So oft schon ist hier die Stadtbahn die Straße mehr hochgehüpft denn gefahren, haben glückliche Menschenmassen das Fahrzeug zum Beben gebracht, sich Generationen heiser gesungen, sind Siege und auch manche Niederlage gefeiert worden, wurden die Sorgen des Alltags einfach beiseitegeschoben, schlossen sich wildfremde Menschen zu einer Einheit zusammen - wenn auch nur auf Zeit.
Die Straßenbahnlinie 302, die nicht nur den ärmeren Gelsenkirchener Süden mit dem etwas bürgerlicheren Stadtnorden verbindet, sondern in normalen Zeiten vor allem Heerscharen von Schalker Fans zu ihrem heiligsten Ort, dem Stadion, bringt, sie hat schon so manches miterlebt.
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Von diesen Freudetagen ist sie, davon ist Gelsenkirchen, davon sind die Menschen hier im Moment so weit entfernt wie ihr FC Schalke 04 von der Deutschen Meisterschaft – und das liegt schon lange nicht mehr nur an den pandemiebedingten Geisterspielen.
Schalkes Misserfolg wirkt sich auf die Stadt und die Gelsenkirchener aus
Die Misere des Bundesligisten vom Berger Feld wirkt sich auf die ganze Stadt aus. Schalke ist der Kitt dieser Stadtgesellschaft, es ist der Ort, wo der Firmenvorstand und der Arbeitslose zusammenstehen. Wäre der Club zur Zeit erfolgreicher, er hätte sogar die Macht den Menschen hier die trostlosen Corona-Wochenenden erträglicher werden zu lassen.
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Schalke ist aber nicht erfolgreich, Schalke ist letzter. Grundsätzlich eine Platzierung, die die Gelsenkirchener zu Genüge kennen.
Vergleiche, die der Emscherstadt die rote Laterne zuschreiben, gibt es zuhauf. Von Hassel bis Ückendorf lösen sie inzwischen oft nur noch ein müdes Schulterzucken aus. Die Gelsenkirchener wissen selbst, was sie an ihrer problembehafteten, aber liebenswerten Stadt haben - egal, was der Rest der Republik denkt.
„Wir sind Schalker, asoziale Schalker“
Wo anders ist es sonst vorstellbar, dass Zehntausende selbstironisch und stolz singen „Wir sind Schalker, asoziale Schalker, schlafen unter Brücken oder in der Bahnhofsmission“? Wo sonst könnte Schalke-Profi Benjamin Stambouli einen Männerchor in Trikots in einer Kirche dirigieren, eben diese Zeilen zum Besten zu geben?
Schalke und Gelsenkirchen, das ist eine Symbiose. Doch das Verhältnis hat Risse bekommen, wo früher brennende Leidenschaft war, hat sich bei vielen Fans Resignation und Gleichgültigkeit breitgemacht. Das ist vermutlich das Schlimmste, was Schalke passieren kann, schlimmer noch als ein Abstieg in Liga zwei.
Was viele Gelsenkirchener denken und fühlen, was es mit ihnen macht, dass der FC Schalke 04, auf den sie eigentlich sonst so stolz sind, derart auseinanderfällt, das weiß Olivier Kruschinski vielleicht am besten. Als Replik auf den letzten Platz (401) in einem ZDF-Städteranking, erfand Kruschinski vor einigen Jahren die Kampagne #401GE. Seither wird das Netz mit Liebesbekundungen über Gelsenkirchen geflutet.
Schalke war immer die Projektionsfläche für die Träume der Gelsenkirchener
Gelsenkirchen- Das „Blaue Band“ ist ein starkes Stück Heimat„Die Situation ist ernst“, sagt der Erfinder der Schalker Mythos-Touren während er die Tür zur Kirche St. Josephaufschließt. Diesem besonderen Gotteshaus direkt an der Schalker Meile, in dem an Spieltagen Fans mit Schal und Fahne beten, in dem ein Kirchenfenster die heilige Barbara – Schutzpatronin der Bergleute – und ein anderes eine einzigartige Interpretation des heiligen Aloisius zeigt: Über dem Kopf ein Heiligenschein und knieabwärts Stutzen und ein blau-weißer Ball.
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Schalke ist hier überall in der Stadt, um die es ansonsten nicht besonders gut bestellt ist. „Nirgendwo anders bedeutet ein Verein so viel für die Stadt wie Schalke für Gelsenkirchen. Schalke ist die Integrationsmaschine der Stadt, die Projektionsfläche für die Hoffnungen, Wünsche und Träume der Gelsenkirchener, die vielfach nicht das einfachste Leben haben. Schalke ist ihr Stolz. Das war schon immer so“, sagt Kruschinski und erinnert an den „Polacken- und Proletenclub“ als Fußball noch ein Sport für Lackschuhträger war. „Die Menschen hier sind der Verein und über den Verein sind die Menschen wer in der Welt“, sagt Kruschinski.
Die soziale Klammer droht auszuleiern
„Wer Schalke und Gelsenkirchen verstehen will, der muss die Vergangenheit kennen, um die Gegenwart zu begreifen und Zukunft gestalten zu können“, sagt der der 45-Jährige, sein Blick schweift durch die kalte, leere Kirche. Dem Identität stiftenden Gotteshaus in Schalke steht eine ebenso ungewisse Zukunft bevor wie dem FC Schalke.
Der letzte Gottesdienst in St. Joseph wurde am 31. Dezember 2019 gehalten. Die Stiftung Schalker Markt, der Kruschinski als Vorstand vorsteht, sucht aktuell Partner, um eine Transformation zu gewährleisten – noch so eine Parallele zum Fußballclub.
„Schalke ist die soziale Klammer in Gelsenkirchen, einer Stadt, die so sehr von Zuwanderung und Integration geprägt ist wie kaum eine andere. Das ist die vielleicht wichtigste Funktion unseres Vereins. Das darf nicht verloren gehen“, mahnt Kruschinski. Für die Menschen in Gelsenkirchen wäre ein Abstieg ein weiter Nackenschlag, „der alle bestätigen würde, die von außen nur auf uns herabschauen. Ich will mir das gar nicht ausmalen“, sagt der leidenschaftliche Gelsenkirchener.
Kruschinski zieht den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kinn hoch und legt seinen blau-weißen Mund-Nasen-Schutz an. „Frisch geworden“, sagt er, „in und auf Schalke“.