Gelsenkirchen. . Lehrermangel, Raumnot und enorme Herausforderungen durch Inklusion und Integration: Ein Rückblick auf ein bildungspolitisch schweres Jahr.

2500 Kinder in Internationalen Förderklassen (Ifö) gab es im März 2017, fast jeder zehnte Schüler in der Stadt lernte zu der Zeit in einer Ifö-Klasse. Heute sind es zwar „nur“ noch 1900 Flüchtlinge und Zuwanderer in 137 Ifö-Klassen. Aber diese Kinder sind nicht verschwunden, sondern in Regelklassen gewechselt. Und in diesem Jahr werden es noch viel mehr sein, die ins Regelsystem eingegliedert werden müssen. In allen Jahrgängen.

Elternprotest am Berger Feld

Wie dieser Übergang für alle Seiten gut funktionieren kann, die neuen Klassen gut zusammenwachsen können, dazu erarbeitet die Bildungsverwaltung jetzt ein Konzept. Landesunterstützung für diese sehr spezielle Aufgabe, die in diesem Ausmaß eigentlich nur noch die Städte Duisburg, Hagen und Essen stemmen müssen, ist angefragt. Eine Antwort steht noch aus.

Stadträtin Annette Berg hofft auf Unterstützung vom Land bei der Entwicklung von Konzepten für einen guten Übergang von Ifö-Kindern in Regelklassen.
Stadträtin Annette Berg hofft auf Unterstützung vom Land bei der Entwicklung von Konzepten für einen guten Übergang von Ifö-Kindern in Regelklassen. © Martin Möller

Mit bis zu 25 nötigen „Mehrklassen“ im nächsten Schuljahr rechnet Bildungsdezernentin Annette Berg. In diesem Jahr waren es vier Klassen im 6. bis 9. Jahrgang, die für die Bildung so einer „Mehrklasse“ geteilt wurden, um zur Hälfte Schüler aus Ifö-Klassen integrieren zu können – alle an Gesamtschulen. Das lief nicht überall problemlos, es gab heftige Elternproteste am Berger Feld, Eltern reichten gar eine Klage auf Einbeziehung in die Planung ein, weil sie sich übergangen fühlten.

„Es war ein schupolitisch sehr herausforderndes Jahr“

Das für die künftige Überführung in Regelklassen zu erarbeitende Konzept, in das Schulleitungen in einer Beteiligungsbegleitgruppe eingebunden werden, soll helfen, den Übergang stolperfreier zu gestalten – für alle Kinder, Lehrer und Eltern. Für 2018 hat die Evangelische Gesamtschule angeboten, auch eine Mehrklasse einzurichten.

„Was die Schulen in Gelsenkirchen in dieser Situation leisten, ist beeindruckend“, schwärmt die Dezernentin vom lösungsorientierten Engagement fast aller Beteiligten. Aber sie sagt auch: „Es war ein Krisenjahr. Und schulpolitisch SEHR herausfordernd.“

Sprachschulstandorte nur für Ifö-Klassen umstritten

Die größte Herausforderung bleiben jene Jugendlichen, die selten bis nie eine Schule besucht haben, obwohl sie zehn Jahre und älter sind. Sie zu alphabetisieren und sprachlich in die Lage zu versetzen, deutschem Unterricht zu folgen, ist die größte Herausforderung.

Die ehemalige Grundschule an der Bickernstrasse im  Haverkamp  soll Sprachschulstandort werden.
Die ehemalige Grundschule an der Bickernstrasse im Haverkamp soll Sprachschulstandort werden. © Heinrich Jung

Heftig diskutiert wurde in der Sondersitzung des Bildungsausschusses im Dezember der Vorschlag der Verwaltung, Sprachschulstandorte ausschließlich mit Ifö-Klassen einzurichten. Im alten Gebäude der Grundschule am Haverkamp und an der Surressestraße. In beiden Fällen sollen es Dependancen von Regelschulen sein; der Gesamtschule Erle und der Mulvany-Realschule. Die Argumentation: Das Platzkontingent an den Schulen ist erschöpft, selbst Container – Modulbauten, wie es heute heißt – hätten auf den eng gewordenen Schulhöfen keinen Platz mehr. Und gegen die Auslagerung ganzer Jahrgänge sprächen die fehlenden Fachräume.

Busse zu Grundschulen im Norden

Fraglos ist: Es muss zeitnah etwas geschehen, um dem Platzmangel in den Schulen Herr zu werden. Die vorgeschlagenen An- und Ausbauten an vielen Standorten wurden allseits begrüßt. Ifö-Grundschulkinder werden zum Teil schon mit Bussen in den Stadtnorden gefahren, weil im Süden das Ende der Fahnenstange erreicht ist.

Alle wollen zurück zu G9 – wie die Umsetzung laufen soll, ist noch immer nicht geklärt  

Die Begeisterung über das Abitur nach acht Jahren und vor allem dessen Umsetzung hielt sich auch in Gelsenkirchen in engsten Grenzen. Als das Schalker Gymnasium im Modellversuch G9 fortsetzen durfte, war der Ansturm der Schüler groß. Nun hat die neue Landesregierung das Ende der Schulzeitverkürzung eingeleitet, die sie 2005 selbst auf den Weg gebracht hatte. Nach Vorlage der SPD und Grünen, die jedoch eine Verkürzung in der Oberstufe vorgesehen hätte, was etwa Schulabschlüsse nach Klasse zehn an Gymnasien erlaubt hätte. Im Gegensatz zur verkürzten Sekundarstufe I.

Eltern von Viertklässlern müssen sich entscheiden

Noch ist das Schalker Gymnasium das einzige Gymnasium in Gelsenkirchen, das das Abitur nach neun Jahren anbietet.
Noch ist das Schalker Gymnasium das einzige Gymnasium in Gelsenkirchen, das das Abitur nach neun Jahren anbietet. © Thomas Schmidtke

Die Gymnasien in der Stadt planen nicht, Schulkonferenzbeschlüsse zu erwirken, um bei G8 bleiben zu dürfen – nur so wäre das überhaupt möglich. Wie aber die Rückkehr gestaltet wird, wann die zweite Fremdsprache künftig einsetzt etwa ist noch unklar. Nicht, weil die Schulen nicht wissen, was sie wollen. Sondern weil die Erlasse fehlen, die die Ausführung regeln. Vor den Schulanmeldungen für das nächste Schuljahr im Februar, in dem Eltern von Viertklässlern sich für eine Schulform entscheiden müssen, dürften sie auch noch nicht vorliegen. Eltern und Schüler müssen sich also voraussichtlich „blind“ entscheiden. Und auch die Vorbereitung von Lehrplänen für den Übergang zum alten neuen G9 muss warten, obwohl sie schon ein Jahr später gelten sollen.

Zweite Sekundarschule als Überraschung vor dem Fest

Eigentlich ist es eine Sensation. In Gelsenkirchen soll eine neuen Schule gebaut werden, eine sechszügige. Es wird der erste Neubau für eine weiterführende Schule seit Jahrzehnten sein. Der genaue Standort steht noch nicht fest, aber es soll im Stadtsüden sein. Und es soll eine integrativ arbeitende Schule sein. Soweit die fast einhellige Meinung von Verwaltung und Bildungspolitikern. An der Schulform allerdings scheiden sich die Geister.

Laut Prognose keine zusätzliche Oberstufe nötig

Eigentlich sollte die Gertrud-Bäumer-Realschule in eine Gesamtschule umgewandelt werden. Doch diese Pläne liegen nun auf Eis.
Eigentlich sollte die Gertrud-Bäumer-Realschule in eine Gesamtschule umgewandelt werden. Doch diese Pläne liegen nun auf Eis. © Joachim Kleine-Büning

Die Verwaltung erstellte nach Analyse der Schülerentwicklung der letzten Jahre eine Prognose für den Bedarf und kam zum Ergebnis, dass eine sechszügige Schule mit Oberstufe eher nicht gebraucht werde, da nicht mit so vielen zusätzlichen Schülern zu rechnen sei, bei denen ein Abitur-Abschluss zu erwarten ist. Oberstufenplätze gebe es genug, daher sei eine Sekundarschule die optimale Lösung, schlug die Verwaltung den verblüfften Politikern im Dezember vor. Sie bereite auf alle Abschlüsse vor, arbeite integrativ und differenziert in jeder Hinsicht, genau wie eine Gesamtschule, kooperiere mit Oberstufen. Der einzige Unterschied: Sie hat keine eigene.

Die SPD reagierte verhalten, war doch bislang stets von einer neuen Gesamtschule die Rede, ließ sich jedoch überzeugen, ebenso wie die überraschte CDU. Die Grünen lehnten mit Entsetzen den Vorschlag ab. Auf den Weg gebracht wurde die Neugründung dennoch. Bis die ersten Schüler darin lernen, dauert es noch Jahre.

Augustaschule wird weiter vom Berufskolleg gebraucht

Eigentlich hatte die Schulkonferenz der Gertrud-Bäumer-Realschule beschlossen, die Umwandlung in eine Gesamtschule zu beantragen. Und die Politik war dafür. Sanierungsbedarf, Denkmalschutz und explodierende Schülerzahlen machten jedoch einen Strich durch diese Rechnung. In der Schule gäbe es keinen Platz für eine Oberstufe, für sechs Züge in Sek I auch nicht. Und die Augustaschule, in der die Oberstufe Platz finden sollte, wird weiter vom Berufskolleg gebraucht. Ende offen.

Entgegen den Prognosen von 2015 zur Berufskolleg-Entwicklung explodieren nämlich auch hier die Schülerzahlen. Viele Ifö-Schüler wechseln auf Berufskollegs, es gibt viele Ifö-Klassen. Fast geräuschlos werden die Herausforderungen hier gestemmt. Die Augustastraße bleibt einfach in Betrieb.


Leistung der Gesamtschule Ückendorf gewürdigt

Analytisch: Jeder zehnte Schulabgänger in Gelsenkirchen hatte 2016 laut NRW-Statistik keinen Schulabschluss. Bei der Analyse der Zahlen zeigt sich, dass fast die Hälfte davon sehr wohl einen Förderschulabschluss hatte. Unter jenen ganz ohne Abschluss handelte es sich zum Großteil um Jugendliche ohne deutschen Pass, vermutlich zugewanderte Quereinsteiger, denen es an Deutschkenntnissen mangelt. Unberücksichtigt in der NRW-Statistik sind auch Schulabschlüsse an der VHS. Handlungsbedarf sieht man freilich trotzdem.

Wegweisender Pädagoge oder verblendeter Nationalsozialist? Darüber wurde 2017 nicht nur in Gelsenkirchen gestritten, sondern auch an anderen Berufsschulen mit seinem Namen. Foto: Thomas Schmidtke Fraglich: War Eduard Spranger ein hochverdienter Pädagoge oder stand er den Nationalsozialisten so nahe, dass das renommierte Berufskolleg nicht durch seinen Namen beschmutzt werden darf? Das „Gelsenzentrum“ hatte die Diskussion angestoßen, die Schulleitung leitete eine umfangreiche Aufarbeitung ein mit Bitte um Stellungnahme der Stadt. Nach Einschätzung des Instituts für Stadtgeschichte war Spranger nur bedingt als Nazi einzustufen.

Doppelt erfreulich: Das ARD-Morgenmagazin würdigt die Arbeit der Gesamtschule Ückendorf unter dem Titel „Engagement macht Schule“. Und dank Austausch mit einer indischen Schule lernen Ückendorfer Schülerinnen eine sehr andere Welt kennen.

Dramatisch: Der Lehrermangel in Gelsenkirchen wird immer drängender. Zum Beginn des Schuljahrs bleiben 83 ausgeschriebene Stellen unbesetzt. Aus gut versorgten Regionen werden 25 Lehrer auf Zeit hierhin abgeordnet. Quereinsteiger sind gefragt.

Unnötig: 80 Sechstklässler sollen ab August ihre Realschule/Gymnasium verlassen, weil ihre Noten nicht gut genug sind. Vor den Ferien ist bei vielen noch offen, wohin sie kommen werden.