Gelsenkirchen. . Immer mehr Quereinsteiger finden den Weg in den Lehrerberuf. An den Schulen in NRW sind sie gefragter denn je. Doch es gibt auch Kritik.

Viertel nach Acht in einer Berufsschule in Gelsenkirchen: 15 angehende Industriemechaniker wiederholen in Gruppen Grundlagen für ihre Abschlussprüfung in drei Wochen.

Lehrer Jan Bollmann wirft mit einem Beamer ein Bild eines Motors an die Wand. Die Aufgabe: Das Schneckenrad ist verschlissen. Welche Teile müssen ausgebaut werden, um das Rad auswechseln zu können?

Bollmann lässt die Klasse diskutieren, greift nur ein, wenn seine Hilfe ausdrücklich gewünscht ist. Er hält keine Vorträge, er moderiert. Ein Schüler stellt die Ergebnisse seiner Gruppe vor, überspringt aber versehentlich ein paar Arbeitsschritte. Bollmann klärt mit der Klasse in Ruhe auf, was noch fehlt.

Rund 1000 Lehrerstellen in NRW unbesetzt

„Wenn das heute falsch ist, ist das nicht schlimm. In drei Wochen erst muss das richtig sein“, beruhigt er die Schüler. Eine alltägliche Schulsituation mit einer Besonderheit: Ihr Lehrer hat sein Fach nicht auf Lehramt studiert. Jan Bollmann ist Quereinsteiger.

Der Lehrermangel an den Schulen in NRW ist weiterhin hoch. Aktuell sind rund 1000 Lehrerstellen unbesetzt. Was 2009 als Notlösung gedacht war, ist heute wichtiger als je zuvor. Denn Quereinsteiger ohne Lehramtsstudium oder Referendariat halten das Schulsystem am Laufen.

626 Quereinsteiger in diesem Jahr eingestellt

Das Land ist auf sie angewiesen. 626 wurden dieses Jahr an NRW-Schulen eingestellt, mehr als ein Drittel davon an Berufskollegs, die damit von allen Schulen die meisten Lehr-Laien beschäftigen. Bis ein Lehramtsstudent mit seiner Ausbildung komplett fertig ist, vergehen sieben Jahre. Ein Quereinsteiger, der in seinem Fach schon Berufserfahrung hat, benötigt zwei.

Ist es denn möglich, innerhalb von zwei Jahren das nachzuholen, was Lehramtsstudenten in zehn Semestern lernen?

Schulleiter hält Ausbildung für angemessen

Uwe Krakau, Schulleiter des Berufskollegs für Technik und Gestaltung: „Auch ein klassischer Referendar ist nach seiner Ausbildung noch kein gestandener Lehrer. Das dauert ein paar Jahre.“ Krakau hält die zweijährige Ausbildung für angemessen.

Seit April lässt sich Jan Bollmann am Berufskolleg in Gelsenkirchen zum Lehrer für Maschinenbau und Versorgungstechnik ausbilden. Nach erfolgreicher Abschlussprüfung im April 2019 ist der 33-Jährige vollwertiger Lehrer, kann sogar verbeamtet werden.

Bollmann kann 2019 verbeamtet werden

2010 schloss Jan Bollmann sein Maschinenbaustudium ab. Sieben Jahre lang arbeitete er dann beim Essener Kraftwerkskonzern Steag, gab dort auch Schulungen.

Seit seiner Studienzeiten ist er Jugendtrainer im Handball. Der Hauptgrund für seinen Berufswechseln sei, dass er gerne mit jungen Erwachsenen arbeiten wolle.

Mehr Gehalt, aber auch mehr Unterricht

Während seiner Ausbildung bekommt Bollmann zwar mehr Gehalt als ein Referendar – muss dafür aber mehr unterrichten. 19,5 Stunden in der Woche steht er vor seinen Klassen, seine Referendarskollegen unterrichten neun Stunden selbstständig.

Hinzu kommt ein Tag pro Woche, an dem er in Münster in Pädagogik- und Fachseminaren weitergebildet wird. Die Arbeitsbelastung sei zwar hoch, aber machbar, gesteht Bollmann: „Verglichen mit der Zeit bei der Steag komme ich etwa auf die gleiche Wochenarbeitszeit.“

Vorteil Praxiserfahrung

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) kritisiert Quereinsteiger scharf. Er stößt sich vor allem daran, dass Quereinsteiger ohne pädagogisches Fachwissen vom ersten Tag an Klassen unterrichten. „Fatal ist, dass das, was ursprünglich als Notlösung gedacht war, inzwischen zur Regel geworden ist“, teilte der Bundesverband mit.

Für Schulleiter Uwe Krakau sind Quereinsteiger dagegen eine Chance für das Schulsystem. Er möchte Bollmann und die 15 anderen Quereinsteiger in seinem Lehrerzimmer nicht mehr missen. „Die Unterschiede verwischen sich im Kollegium. Auch viele klassische Referendare haben vorher in der Industrie gearbeitet“, sagt Krakau.

Anekdoten aus der Arbeitswelt

Die Verbindung zwischen Theorie und Praxis funktioniere nur, wenn der Lehrer die Praxis auch kenne. Das sei ein großer Vorteil, den Quereinsteiger im Gegensatz zu Referendaren, die frisch von der Uni kommen, haben: Berufserfahrung.

Jan Bollmann selbst sagt, dass er seinen Unterricht gelegentlich mit Anekdoten aus seiner Zeit bei der Steag spickt: „An der ein oder anderen Stelle im Unterricht kann man eine Geschichte erzählen, wie man ein Problem in der Praxis lösen kann.“

>>>Wie gelingt der Quereinstieg?

In NRW gibt es drei Möglichkeiten, quer in den Lehrerberuf einzusteigen: Uniabsolventen, die wie Jan Bollmann Studienleistungen in zwei Fächern nachweisen können, machen einen „berufsbegleitenden Vorbereitungsdienst“.

Voraussetzungen sind ein Universitätsabschluss (Bachelor reicht allerdings nicht) und zwei Jahre Berufserfahrung oder eine zweijährige Betreuung eines Kindes. Anschließend können die angehenden Lehrer verbeamtet werden und verdienen so viel wie „normale“ Lehrer (Tarifgruppe A12/A13).

Die zweite Möglichkeit bietet ein FH-Abschluss. Die Bewerber können an Berufskollegs eingestellt werden und erwerben in einem dualen Studiengang den Master of Education. Anschließend absolvieren sie 1,5 Jahre lang die gleiche Ausbildung wie Jan Bollmann.

NRW richtet Stellenbörse ein

Die dritte Möglichkeit ist für Absolventen, die nur ein Fach studiert haben. Sie absolvieren eine einjährige Schulung, können aber nicht verbeamtet werden, weil ihnen das zweite Fach fehlt.

Diese Absolventen sind Lehrern nicht gleichgestellt und werden schlechter bezahlt. In der Grundschule ist der Quereinstieg derzeit auf die Fächer Kunst, Musik, Sport und Englisch begrenzt. An den weiterführenden Schulen sind fast alle Fächer dafür geöffnet. Das Land richtete die Stellenbörse „LOIS.NRW“ ein.