Gelsenkirchen. Die Gelsenkirchenerin Margarete Weißfuß (79) erlebte als Kind den schweren Luftangriff am 6. November 1944. Ihre Erinnerungen an Stunden im Emmabunker und Kriegs-Leid, Angst, Rauch, Verlust, tote Pferde – und einen kleinen Stopfpilz, den sie besonders vermisste:
Die Erlebnisse dieses Montags hat Margarete Weißfuß nie vergessen. Sie haben sich in ihre Lebensgeschichte eingebrannt. Neun Jahre alt war sie damals, als die Bomben fielen, als ihre Heimatstadt den schwersten und verheerendsten Luftangriff des Zweiten Weltkriegs erlebte. Gelebt hat sie damals mit ihrer Familie an der Walpurgisstraße 41/43 in Bulmke-Hüllen. Das hat sie am 6. November 1944 erlebt:
„An diesem Vormittag hatten wir schon viermal Fliegeralarm. Ich, gerade neun Jahre alt, schleppte jedes Mal Klein-Ernst, drei Jahre, auf dem Arm in den Emmabunker. Seine Mutter, eine Rotkreuzschwester, war vom Nachteinsatz noch nicht zurück. Meine Schwester Inge, sieben Jahre, rannte vor mir her. Unser Vater, Lokführer bei der Reichsbahn, war noch im Dienst. Mutter hatte Waschwoche und kam im letzten Moment mit nach Seifenlauge riechenden Händen nachgelaufen.
Die angstmachenden Sirenen
Nun heulten die angstmachenden Sirenen wieder. Klein-Ernst wurde zwischendurch abgeholt. Mutter hatte für jeden eine Leinenumhängetasche genäht – für den Notfall – gepackt und parat gestellt. Diesmal schnappte ich sie mir und rannte ans Waschküchenfenster im Haus nebenan, rief nur, ,komm, komm schnell. Ich höre schon die Flugzeuge.’ Sie wollte endlich die Wäsche zu Ende bringen und nicht mitkommen. Ich bettelte, weinte und hatte solche Angst, die Bomben würden gleich fallen. Diesmal rannten viel mehr Menschen in den Bunker. Schwester Inge begann nun auch zu weinen und Mutter wurde ärgerlich. Sie versprach, nachzukommen, nur ihr Notköfferchen wollte sie holen. Wir rannten los und einige Male guckte ich mich vergebens nach Mutter um. Wo bloß die vielen Menschen herkamen? Mit ihnen wurden wir in den Bunker hineingeschoben und fanden ein Plätzchen – oben auf den Doppelstockbetten.
Der Duft von Kölnisch Wasser
Es war laut, alle waren unruhig, und ich sah Mutter immer noch nicht. Ein neuer Schwung Menschen schob sich in unseren Raum. Und da, Gott sei Dank, Mutti, Tante Paula und Großmutter kamen auch. Noch während Koffer und Klappstühlchen gerückt wurden, erlebten wir die ersten Erschütterungen. Ich bekam Angst. Plötzlich war eine bedrohende Stille im Raum, selbst die brüllenden Kleinkinder waren erschrocken. Es folgte Erschütterung auf Erschütterung. Der Bunker bebte und ächzte. Eine große Panik traf im Moment des Lichtausfalls ein. In der Stille Hilferufe, Schreie. Bei all dem Durcheinander und der Verzweiflung war plötzlich ein neuer Duft im Raum. Er tat mir gut. Ich habe ihn all die Kinderjahre nicht vergessen. Heute weiß ich, dass es Kölnisch Wasser war.
Irgendwann kam die Entwarnung. Ein unbeschreibliches Geschubse und Gedränge begann. Ich hörte wie die Leute sagten: ,Kein Wasser – kaputt –Bombentrichter – Brandbomben.’ Ich verstand nicht, wovon gesprochen wurde. Langsam ging es weiter. Großmutter und Tante Paula waren vor uns. Da sah ich, wie Großmutter die Hände vors Gesicht schlug und weinte. Wie sah sie aus, so weiß und verändert? Es roch komisch und war eigenartig hell. Gelber Rauch zog vorbei – hatte ich noch nie gesehen. Es brennt, ging mir durch den Kopf. Dann sah ich die Hohenzollernschule ohne Dach und Fenster. Es stank eklig, ich musste mich übergeben. Vor uns lag ein Pferd im Blut, ein Bein fehlte, es stöhnte und wieherte. Mutti riss mich hinter sich her. Es knallte schrecklich. Mutti sagte: ,Komm endlich, das Pferd lebt nicht mehr.’“