Essen. Weil Pflegekräfte fehlen, gibt es Mängel in einem Seniorenheim in Essen. Ein Angehöriger ist entsetzt. Das Heim räumt „individuelle Fehler“ ein.
91 Jahre lang hat die Essenerin Despina Lazaridou gelebt, ein gesegnetes Alter. Doch ihre letzten zwei Tage in einem Pflegeheim in Kettwighat ihr Sohn in düsterer Erinnerung. „Es gab pflegerische Fehler, die meiner Mutter die Sterbephase erschwerten“, sagt Kosmas Lazaridis. Es fehle dort Fachpersonal. Tatsächlich hat die Heimaufsicht Ende 2022 ein Belegungsverbot für das Heim ausgesprochen. Der Fall steht auch exemplarisch für die Personalprobleme, mit denen die Altenpflege vielerorts kämpft. So sagt der Träger des Heims, man suche dringend gute Kräfte – um Pflege nach höchsten Standards bieten zu können.
Die hat Kosmas Lazaridis, dessen Mutter fast zwei Jahre im Johann-Grimhold-Haus in Kettwig lebte, am Ende vermisst. So habe man in ihren letzten Stunden zu spät einen Arzt gerufen. Als dieser der leidenden Dame Morphin verschrieb, habe das Personal die stete Gabe im Sechs-Stunden-Intervall versäumt. Die Pflegekräfte hätten überfordert und hilflos gewirkt. Zuletzt hätten sie die Sterbende aus „unerklärlichen Gründen“ umgelagert, wonach sie heftig geröchelt habe. „Ihr Zustand war für uns nicht mehr erträglich.“
Pflegekräfte in Essener Altenheim wirkten desinteressiert oder sprachen schlecht Deutsch
Dazu komme der Eindruck, dass in dem Heim schon länger etwas schief laufe: „Im ersten Jahr war der Aufenthalt für meine Mutter recht angenehm, danach gab es ständige Personalwechsel.“ Stammkräfte seien immer mehr durch Leiharbeitskräfte ersetzt worden. Einige von ihnen hätten unzureichend Deutsch gesprochen, andere desinteressiert gewirkt; bisweilen gar weggeschaut, statt Bewohnern zu helfen. Pflegekräfte hätten ihm von großem Unmut erzählt, seit die Adolphi-Stiftung das Heim – wie das ebenfalls in Kettwig angesiedelte Georg-Schriever-Haus – im Jahr 2019 übernahm.
„Das Menschliche ist verloren gegangen, hier wird mit dem eisernen Besen gekehrt“, erzählt uns ein langjähriger Pfleger. Mitarbeiter seien wegen Kleinigkeiten abgemahnt, manche gekündigt worden, andere seien wegen des Arbeitsklimas gegangen. „Der Führungsstil hat sich geändert: Früher war es familiär, nun ist es autoritär.“
Viel Fluktuation beim Personal
Wenn man etwa am Wochenende die Schicht eines erkrankten Kollegen übernahm, habe es dafür früher Extrazahlungen gegeben, sagt der Pfleger. Solche Anreize habe der neue Träger gestrichen. Die Fluktuation sei hoch, viele Stationen seien schlecht besetzt: „Mittlerweile geraten die Kollegen jederzeit an ihre Grenzen. Gespräche mit Bewohnern bleiben auf der Strecke.“
WTG-Behörde prüft regelmäßig alle Pflegeheime
In Essen gibt es 72 vollstationäre Einrichtungen der Pflege und 45 vollstationäre Einrichtungen der Eingliederungshilfe (für Menschen mit Behinderungen). In diesen Einrichtungen finden laut Stadt „jährliche Regelprüfungen“ statt. Gibt es keine Mängel, kann der Prüfabstand auf zwei Jahre verlängert werden. Die Prüfungen führt die WTG-Behörde durch: Die Abkürzung steht für Wohn- und Teilhabegesetz; die Behörde hieß zuvor Heimaufsicht. Die WTG-Behörde in Essen hat zehn Beschäftigte, darunter zwei Pflegefachkräfte.
Gibt es in einer Einrichtung Mängel, spricht die Behörde eine Belegungsuntersagung von meist zwei, drei Monaten aus. Werden die Mängel rascher beseitigt, kann das Verbot früher aufgehoben werden. Werden sie nicht beseitigt, kann das Verbot verlängert werden. In gravierenden Fällen kann ein Bußgeld von bis zu 25.000 Euro verhängt werden. Dies war in Essen bislang noch nicht notwendig.
Für jeden freien Platz, der nicht belegt werden darf, entsteht der Einrichtung ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden, so dass es ein großes Eigeninteresse gibt, Mängel zu beseitigen. Geschieht das nicht, kann die Einrichtung im letzten Schritt geschlossen werden. „Dies war in Essen in den vergangenen zehn Jahren nur einmal notwendig“, teilt die Stadt mit. Im Jahr 2022 wurden zwei Belegungsverbote erteilt.
Von Missständen spricht die WTG-Behörde, „sofern eine hohe Anzahl unversorgter Bewohner, Tatbestände der Körperverletzung usw. vorliegen“. Einen solchen Fall gab es in Essen noch nicht.
Verantwortlich für die Entwicklung sei die Adolphi-Stiftung, glaubt Kosmas Lazaridis. Seit sie das Heim übernommen habe, gehe es bergab. Der Geschäftsführer der Stiftung, Dirk Gersie, wundert sich über die Schuldzuweisung: Despina Lazaridou sei im Oktober 2020 ins Johann-Grimhold-Haus gezogen – da war die Adolphi-Stiftung schon ein Jahr lang Träger. Ihr Sohn habe den früheren Träger also gar nicht erlebt und wisse wohl nicht, dass es in den zwei Kettwiger Pflegeheimen mit ihren insgesamt 170 Plätzen schon länger Probleme gegeben habe.
Die Evangelische Seniorenzentrum Kettwig gGmbH (ESKZ), zu der die Heime gehören, hatte lange vergeblich einen neuen Träger gesucht: „Wir haben im Laufe der Zeit mit 18 verschiedenen Trägern gesprochen“, sagte Jörg Fromme vom ESKZ-Aufsichtsrat dieser Zeitung im Februar 2019. Da hatte man mit der Adolphi-Stiftung endlich einen Essener Träger gefunden, so wie es der Kirchenkreis wünschte.
Neuer Träger strich Extrazahlungen und Friseurbesuche in der Arbeitszeit
Gersie fühlte sich für die Aufgabe gewappnet: Jahre vorher habe man schon einmal „eine in Schieflage geratene Einrichtung übernommen“ und rasch die eigenen Pflegestandards umsetzen können. In Kettwig hätten die Qualitätsmanager nach Besuchen in den beiden Heimen gesagt: „Hier gibt es so verkrustete Strukturen, das wird lange dauern.“ Was der langjährige Pfleger als familiäres Klima beschreibt, nennt Gersie eine problematische „Familienstruktur“. Beispiele hierfür seien Extrazahlungen ohne vertragliche Grundlage oder Friseurbesuche in der Arbeitszeit.
Wurde also mit dem eisernen Besen gekehrt? „Wir haben die aus unserer Sicht notwendigen Schritte unternommen“, sagt Gersie. Mancher habe daraufhin das Haus verlassen; auch einzelne Kündigungen habe man ausgesprochen. Angesichts des Fachkräftemangels sei es aber schwierig, neue qualifizierte Kräfte zu gewinnen. „Der Arbeitsmarkt ist extrem herausfordernd.“ Aber er könne ja die Einstellungskriterien nicht beliebig senken. So sei die Personalsuche zeitaufwendig und mühsamer geworden.
Zeitarbeit ist für viele Fachkräfte attraktiv
In dieser Lage habe die Adolphi-Stiftung wie andere Träger auch in ihren Heimen Zeitarbeitsfirmen beschäftigt. „Dabei ist Zeitarbeit viel teurer als normale Arbeitsverhältnisse.“ Für viele Kräfte sei sie jedoch attraktiv: Feste Stellen hätten sie ausgeschlagen, obwohl die Stiftung nach Tarif zahle und gute Konditionen biete.
Leider führe Zeitarbeit zu ständigen Personalwechseln und „verständlicherweise großen Einarbeitungsproblemen“, sagt Gersie. Auch die von Lazaridis beklagten Mängel streitet er nicht rundweg ab: „Es gab – wie überall – individuelle Fehler von Beschäftigten.“ Daher habe jemand die städtische WTG-Behörde (vormals: Heimaufsicht) informiert, die im November 2022 ins Johann-Grimhold-Haus kam – und laut Stadtsprecherin Silke Lenz eine „sofortige Belegungsuntersagung“ für sechs Monate aussprach.
„Bei der unangemeldeten Anlassprüfung haben sich die gemeldeten Mängel bestätigt, außerdem wurden weitere Mängel festgestellt“, so Lenz. Man beobachte zunehmend, dass wegen des Fachkräftemangels Stellen in der Pflege erst nach Monaten besetzt würden. So auch in dem zweiten Essener Heim, gegen das im vergangenen Jahr ein Belegungsverbot ausgesprochen wurde.
Belegungsverbot kann vorzeitig aufgehoben werden, wenn die Mängel beseitigt sind
Meist gilt das Verbot für zwei, drei Monate, in denen die Mängel abgestellt werden sollen. „Im vorliegenden Fall versucht die Einrichtung schon länger ohne Erfolg, die Personalprobleme in den Griff zu bekommen, so dass die Belegungsuntersagung für sechs Monate erfolgte“, erklärt Lenz. Werden die Mängel früher beseitigt, könne das Verbot vorzeitig aufgehoben werden.
Der „Sterbefall Lazaridou“ sei nicht Anlass der Prüfung gewesen, stellt Lenz klar. Kosmas Lazaridis habe sich zwar auch bei der WTG-Behörde gemeldet, seine Vorwürfe aber „nicht konkret beschrieben“. Man habe sie daher nicht eingehend geprüft. Offenbar habe es „aufgrund gesundheitlicher Beschwerden der Patientin“ zwischen dem Pflegepersonal und den Angehörigen Unstimmigkeiten gegeben, „ob die Gabe der Morphindosis erfolgen soll“. Dirk Gersie bedauert den Kummer, den die Familie erleben musste. Man bewerte das Geschehen jedoch anders als Herr Lazaridis.
Für das Seniorenheim gibt es eine Warteliste
Gersie und Personalchefin Julia Lewitzki konzentrieren sich jetzt darauf, die Personalsituation und damit die Pflege zu verbessern: So hatten Johann-Grimhold-Haus und Georg-Schriever-Haus bisher eine gemeinsame Leitung, inzwischen hat jedes Heim eine eigene. Auch möchte man das Stammpersonal deutlich aufstocken und einen Mitarbeiter-Pool einrichten, der bei Engpässen einspringt: „Zeitarbeit aus den eigenen Reihen“, nennt Gersie das.
Er hoffe, dass das Belegungsverbot früher aufgehoben werden könne. Nicht nur, weil jeder Tag heftige finanzielle Einbußen bedeute. „Wir haben eine Warteliste für Kettwig.“