Essen. . Bis vor ein paar Jahren wurde sexuelle Gewalt unter Jugendlichen kaum beachtet. Der typische Tatort ist die erste Liebesbeziehung. Rund 60 Prozent der Jugendlichen haben hier Erfahrungen gemacht, die sie verunsichert oder gar traumatisiert haben. Ein Theaterstück bricht mit dem Tabuthema.

Anna Pallas befasst sich seit zwei Jahrzehnten mit dem Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder, sie leistet Aufklärungsarbeit und gilt als Expertin. Und doch gab es auch bei ihr bis vor wenigen Jahren einen blinden Fleck: „Wir sind praktisch immer von erwachsenen Tätern, meist von Männern, ausgegangen, die Kinder missbrauchen. Über sexuelle Grenzverletzungen zwischen Jugendlichen wusste ich viel zu wenig.“ Und dann kam Ameland.

Auf der niederländischen Insel wurden 13- und 14-Jährige in einem Ferienlager im Sommer 2010 brutal sexuell misshandelt, mit Hilfe von Flaschen und Besenstielen. Die Täter waren gleichaltrige und etwas ältere Mitreisende. Und als die Kinder den Betreuern anvertrauten, sie würden von den Großen traktiert, schalteten diese zunächst nicht.

Das Ausmaß der Misshandlungen wurde erst nach der Rückkehr offenbar und sorgte bundesweit für Schlagzeilen vom „Alptraum auf Ameland“. Anna Pallas ging der Fall nah: Sie leitet die Theaterpädagogische Werkstatt Osnabrück, die mit dem Stück „Mein Körper gehört mir“ einen Aufklärungs-Klassiker produziert hat. Das Ferienlager auf Ameland hatte der Stadtsportbund Osnabrück veranstaltet – „einer unserer Kooperationspartner“.

Auch übergriffige Jugendliche sollen angesprochen werden

Pallas und ihr Team zogen den Schluss, sich mit dem vernachlässigten Thema zu befassen und schrieben das Stück „EinTritt ins Glück“. Schablonenhafte Zuschreibungen sollen vermieden werden: Es geht nicht nur um die Opfer, sondern auch darum, den jungen Täter zu benennen, ohne ihn zu verunglimpfen. Schließlich bilden sich sexuelle Verhaltensweisen im Jugendalter erst heraus. „Wir müssen auch die übergriffigen Jugendlichen ansprechen, auffangen, resozialisieren.“

Zumal der typische Tatort für solche Übergriffe nicht das Ferienlager ist – sondern die erste Liebesbeziehung. Rund 60 Prozent der Jugendlichen haben hier Erfahrungen gemacht, die sie verunsichert oder gar traumatisiert haben. Bloß im entscheidenden Moment fehlte vielen der Maßstab, wo die Überredung endet und die Erpressung beginnt. Das Stück handelt also von Grenzen und Grenzüberschreitungen.

Theaterstück will „totale Sprachlosigkeit“ überwinden

Das Thema reiche vom Grapschen auf dem Schulhof bis zur Vergewaltigung beim Date, sagt die Psychologin Claudia Kader-Tjijenda, die bei der evangelischen Beratungsstelle für Schwangerschaft, Familie und Sexualität in Essen arbeitet. Durch das Internet hätten die Jugendlichen theoretisch viel Wissen über Sexualität und behandelten das Thema mit einer gewissen Coolness. „Gleichzeitig gibt es eine totale Sprachlosigkeit, wenn es darum geht, dem Freund zu sagen, was sie wollen – und was nicht.“ Hier setzt das Stück „Ein Tritt ins Glück“ an, das am Donnerstag in der Weststadthalle gezeigt wurde, vor Lehrern und pädagogischen Fachkräften, die gleichsam als Testpublikum fungierten.

Gleich mit ihrer Produktion „Mein Körper gehört mir“ hat die vor genau 20 Jahren gegründete Theaterpädagogische Werkstatt aus Osnabrück einen Blockbuster der Aufklärung auf die Bühne gebracht: Inzwischen haben zwei Millionen Kinder das Theaterstück gesehen, das über sexuelle Gewalt informieren und Kinder zum Nein sagen ermutigen will. In Grundschulen in der ganzen Republik wird das Stück gezeigt.

Essener Fachgruppe gegen sexualisierte Gewalt

Auf Prävention setzt auch die Essener Fachgruppe gegen sexualisierte Gewalt „Horizont“: Aufklärung und Selbstbehauptung sollen Kinder und Jugendliche in die Lage versetzen, sich gegen Übergriffe zu wehren. In der Gruppe, die seit 1987 besteht, haben sich 18 Essener Einrichtungen vernetzt: von der Arbeiterwohlfahrt bis zum Verein für Kinder- und Jugendarbeit in sozialen Brennpunkten (VKJ); kirchliche Stellen, Frauenhaus, Kinderschutzbund und Polizei sind dabei.

Auch der Polizei geht es im Horizont-Netzwerk nicht so sehr um Verbrecherjagd oder Kriminalstatistik, sondern um das Verhindern von sexueller Gewalt – und um das Sensibilisieren für das Thema. Wie bei häuslicher Gewalt, die erst allmählich ins öffentliche Bewusstsein gerückt sei, gebe es heute auch bei Übergriffen unter Jugendlichen ein großes Dunkelfeld, sagt Bettina König, die bei der Kripo Essen im Bereich Prävention und Opferschutz arbeitet. „Ein Großteil der Übergriffe spielt sich in den ersten Liebesbeziehungen ab.“ Vielen Betroffenen sei nicht einmal klar, dass sich auch Jugendliche des sexuellen Missbrauchs schuldig machen können.

Hier setzt das aktuelle Stück der Theaterpädagogischen Werkstatt Osnabrück „EinTritt ins Glück“ an, das zeigt, wie Flirten und Necken zur sexuellen Nötigung werden kann. Auf Einladung von Horizont wurde es am Donnerstag im Rahmen einer Fachtagung in der Weststadthalle vor Lehrern und pädagogischen Kräften aus der Jugendarbeit vorgeführt. Die Theaterproduktion wendet sich an Schüler ab der 7. Klasse und kann über das Präventionsprojekt „Grenzgebiete“ von Schulen gebucht werden.