Essen.

Eine schmale Treppe, knarzende Stufen, eine schwere dunkle Holztür - dahinter eine kleine Kammer, düster der vertäfelten Wände wegen. Urig, aber wärmend und behütend. Als Mark Roseman zum ersten Mal dieses Zimmer im Dore Jacobs Berufskolleg in Essen-Stadtwald betritt, kommen dem Historiker vor Rührung die Tränen. Hier also hat sich Marianne Ellenbogen, geb. Strauß, versteckt. Hier fand sie Zuflucht, damals im August 1943 - 19 Jahre jung, eine Jüdin, die im letzten Moment den Nazi-Häschern der Geheimen Staatspolizei entkommen konnte - und überlebte.

Das Haus an der Leveringstraße 30 fällt auf, anders als die schmucken Eigenheime in der Nachbarschaft ist es aus Holz gebaut. Die wenigsten aber dürften auch nur erahnen, welche Geschichte dieses Haus erzählt. Es ist die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht. Eine Geschichte von Leben und Überleben in einer Zeit, als der Massenmord an Juden und anderen Verfolgten politisches Programm war. Und es ist eine Geschichte, die von mutigen Menschen berichtet, die es möglich machten, dass eine junge Frau dieser Hölle entkommen konnte.

Ein Buch über das Schicksal

Mark Roseman hat die Geschichte von Marianne Ellenbogen erzählt, über ihr Schicksal hat er ein faszinierendes Buch geschrieben. Er selbst durfte sie kennen lernen, da war Marianne Ellenbogen eine hochbetagte Frau; sie lebte in England. Was wirklich geschehen ist in den Jahren ihrer Flucht, entnahm Roseman erst den Tagebüchern, die sie hinterlassen hat.

Im Haus der Essener Geschichte erinnert heute ein Portrait an die ehemalige Luisenschülerin, daneben eine Kopie des Gestapo-Berichts, den Roseman bei seinen Recherchen im Düsseldorfer Hauptarchiv entdeckte und der ihn zum Titel seines Buches inspirierte. „Sie hat dann in einem unbewachten Augenblick das Haus verlassen“, heißt es darin. Zur Eröffnung der Dauerausstellung zur Stadtgeschichte im 20. Jahrhundert im Haus der Essener Geschichte erinnerte diese Zeitung an Marianne Ellenbogen. Wer aber waren jene, die sie versteckten, ohne deren Hilfe sie den Holocaust wohl nicht überlebt hätte? Und warum ist vergleichsweise wenig über ihr Wirken bekannt?

Essener Stadtgeschichte

Im Stadtarchiv wird die Ausstellung „Essen – Geschichte einer Großstadt im 20. Jahrhundert“ am Mittwoch eröffnet. Foto: Ulrich von Born
Im Stadtarchiv wird die Ausstellung „Essen – Geschichte einer Großstadt im 20. Jahrhundert“ am Mittwoch eröffnet. Foto: Ulrich von Born © WAZ FotoPool
Im Stadtarchiv wird die Ausstellung „Essen – Geschichte einer Großstadt im 20. Jahrhundert“ am Mittwoch eröffnet. Foto: Ulrich von Born
Im Stadtarchiv wird die Ausstellung „Essen – Geschichte einer Großstadt im 20. Jahrhundert“ am Mittwoch eröffnet. Foto: Ulrich von Born © WAZ FotoPool
Im Stadtarchiv wird die Ausstellung „Essen – Geschichte einer Großstadt im 20. Jahrhundert“ am Mittwoch eröffnet. Foto: Ulrich von Born
Im Stadtarchiv wird die Ausstellung „Essen – Geschichte einer Großstadt im 20. Jahrhundert“ am Mittwoch eröffnet. Foto: Ulrich von Born © WAZ FotoPool
Im Stadtarchiv wird die Ausstellung „Essen – Geschichte einer Großstadt im 20. Jahrhundert“ am Mittwoch eröffnet. Mit diesem Ball gewann Rot-Weiß Essen 1955 die Deutsche Fußball-Meisterschaft. Foto: Ulrich von Born
Im Stadtarchiv wird die Ausstellung „Essen – Geschichte einer Großstadt im 20. Jahrhundert“ am Mittwoch eröffnet. Mit diesem Ball gewann Rot-Weiß Essen 1955 die Deutsche Fußball-Meisterschaft. Foto: Ulrich von Born © WAZ FotoPool
Im Stadtarchiv wird die Ausstellung „Essen – Geschichte einer Großstadt im 20. Jahrhundert“ am Mittwoch eröffnet. Klaus Wisotzky ist Leiter des Hauses. Foto: Ulrich von Born
Im Stadtarchiv wird die Ausstellung „Essen – Geschichte einer Großstadt im 20. Jahrhundert“ am Mittwoch eröffnet. Klaus Wisotzky ist Leiter des Hauses. Foto: Ulrich von Born © WAZ FotoPool
Im Stadtarchiv wird die Ausstellung „Essen – Geschichte einer Großstadt im 20. Jahrhundert“ am Mittwoch eröffnet. Foto: Ulrich von Born
Im Stadtarchiv wird die Ausstellung „Essen – Geschichte einer Großstadt im 20. Jahrhundert“ am Mittwoch eröffnet. Foto: Ulrich von Born © WAZ FotoPool
Im Stadtarchiv wird die Ausstellung „Essen – Geschichte einer Großstadt im 20. Jahrhundert“ am Mittwoch eröffnet. Foto: Ulrich von Born
Im Stadtarchiv wird die Ausstellung „Essen – Geschichte einer Großstadt im 20. Jahrhundert“ am Mittwoch eröffnet. Foto: Ulrich von Born © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. Klaus Wisotzky, Leiter des Hauses, erläutert einige Schaustücke.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. Klaus Wisotzky, Leiter des Hauses, erläutert einige Schaustücke. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. Klaus Wisotzky, Leiter des Hauses, erläutert einige Schaustücke.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. Klaus Wisotzky, Leiter des Hauses, erläutert einige Schaustücke. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen.
Exponate aus Essens Geschichte sind im Stadtarchiv zu sehen. © WAZ FotoPool
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Karin Gerhard war Schülerin, Lehrerin und lange Jahre Leiterin des Dore Jacobs Berufskollegs. Obwohl Zeitzeugen lebten und im Hause mitwirkten, wurde über das, was geschehen war, kein Wort verloren, nicht über die Menschen, die während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft hier Zuflucht fanden, noch um die politische Gruppe, die sich hier im Verborgenen traf, erzählt Karin Gerhard und wundert sich noch heute selbst darüber. Erst in den 70er Jahren kommt die Vergangenheit nach und nach in persönlichen Gesprächen ans Licht. Es war als hätten jene, die davon noch berichten konnten, darauf gewartet, dass sie gefragt werden, berichtet Karin Gerhard.

"Charismatische Persönlichkeiten"

Die Geschichte, die sie erzählen dreht sich vor allem um zwei Personen: um Artur Jacobs (1880 - 1968) und Dore Jacobs (1894 - 1978), seine Frau. Er ein moderner Pädagoge, ehemaliger Lehrer am Goethe-Gymnasium und in den 20er Jahren dem persönlichen Bildungsauftrag verpflichtet in der Volkshochschulbewegung aktiv. Sie Gymnastin und Pädagogin, die Tanz als Bildungsgut versteht und lehrt.

Beide werden als charismatische Persönlichkeiten beschrieben. Ab 1924 versammeln sie im „Bund für sozialistisches Leben“ Gleichgesinnte um sich, um eine neue Form der Gemeinschaft, des Zusammenlebens zu erproben. Politisches und Privates sind nicht zu trennen, sondern zwei Seiten derselben Medaille. Es geht um Individualität und stets um die Reflexion des eigenen Handelns. Mann und Frau sind gleichberechtigte Individuen. Der Bildungsansatz ist missionarisch, Karin Gerhard spricht von einer starken Spiritualität, die in die Gruppe hinein und nach außen wirkte.

Ein Rettungsnetz

Auch in anderen Städten finden sich Bund-Gruppen zusammen, in Wuppertal, in Remscheid, in Mülheim. Als die Nationalsozialisten die Macht ergreifen, ist es dieses Netz, das Flüchtige auffangen und retten soll.

Dass die Nazi-Ideologie mit Führerkult und Rassenwahn im krassen Widerspruch steht zum Lebensentwurf des Bundes, liegt für Artur Jacobs auf der Hand lange bevor der Nationalsozialismus seine zerstörerische Wucht entfaltet. Als es soweit ist, zögern die „Bundesgenossen“ nicht und helfen. Warum nahmen sie dieses Risiko auf sich? „Wir waren fast alle von Natur keine zum Abenteuer neigenden, physisch mutigen Menschen“, schrieb Dore Jacobs Jahre später, „sonder Menschen mit Angst vor Leiden, Quälerei, Gefängnis und Tod.“ Dennoch schreckten sie nicht zurück. Weniger aus Scham oder Mitleid, sondern in der festen Überzeugung das Richtige zu tun. „Wir sind legal, illegal sind sie“ - so formulierte es Lisa Jacob, auch sie eine Jüdin, die wie Marianne Ellenbogen mit Hilfe des Bundes untertaucht.

Das Holzhaus an der Leveringstraße wird für die 19-Jährige auf ihrer abenteuerlichen Flucht immer wieder zum Zufluchtsort. „Tagsüber musste ich in meinem kleinen Zimmer bleiben, denn der Kindergarten im Haus brachte viel Ein- und Ausgehen von Außenseitern“, erinnert sich Marianne Ellenbogen. Von Essen aus reist sie zu Bundmitgliedern nach Braunschweig, Göttingen oder Wuppertal. In Mülheim, wo sie bei einer Arbeiterfamilie immer wieder Unterschlupf findet, geben die Eheleute sie als ihre Nichte aus, um Nachbarn zu täuschen. Sie reist mit der Bahn oder mit der Straßenbahn, ohne Essensmarken und ohne Papiere, abgesehen von einer Ausweiskarte, ausgestellt von der Post, aber ohne den Zunamen „Sarah“, den Jüdinnen auf Anordnung der Nazis tragen mussten. Marianne tritt selbstbewusst auf. Dem Rat folgend, den Artur Jacobs auch Lisa Jacob mit auf den Weg gegeben hatte: „Dreh dich nicht andauernd um. Du wirst dich daran gewöhnen müssen, harmlos und heiter zu wirken, wenn dir auch ganz anders zumute ist.“ Und sie hat Glück, auch das.

Befreiung durch die Alliierten

Marianne Ellenbogen erlebt die Befreiung durch die Alliierten in Düsseldorf, wo sie sich versteckt hält. Artur und Dore Jacobs, auch sie ist Jüdin, konnten bei Freunden in Süddeutschland untertauchen. Nach Kriegsende nehmen die Bundmitglieder ihre politische Arbeit wieder auf. Über den eines Gesprächszirkels wirkten sie nicht hinaus. Die Geschichten von Marianne Ellenbogen und Lisa Jacob gerieten nahezu in Vergessenheit - bis der Münsterbauverein 1984 in seiner Jahreszeitschrift zwei kurze Erlebnisberichte der beiden Frauen veröffentlichte, auf die Marc Roseman bei seinen Recherchen eher zufällig stieß.

Warum hielt er Bund sich selbst so lange bedeckt? Direkt nach dem Krieg war die Erinnerung an das Geschehene zu frisch, vermutet Karin Gerhard. Möglicherweise wollte die Geschichten auch niemand hören. Dass man erst nach den bewegten 68er Jahren begann, Fragen zu stellen dürfte kein Zufall sein.

Marc Roseman bietet folgenden Erklärungsversuch an: Die Taten seien nicht heroisch genug gewesen, um in der Nachkriegszeit große Anziehungskraft auszuüben. Das Terrorregime der Nazis konnten sie nicht zu Fall bringen. Auch hatte der Bund - anders als andere Widerstandsgruppen - glücklicherweise keine Märtyrer aufzuweisen.

Sie hatten gehandelt, wie sie es sich selbst schuldig waren: menschlich.