Essen. Arnold Köppen (90) erlebte am Morgen nach der Pogromnacht die Gewalt der Nazis gegen die Juden.
Als Arnold Köppen aus der Innenstadt nach Hause radelte, riss jemand plötzlich ein Fester auf. Schränke, Kleider und Bettwäsche flogen auf die Straße. Das ist unmöglich, dachte der damals 17-Jährige. „Ich blieb stehen, stieg ab“, erzählt der 90-Jährige heute. Es stand an der Brunnenstraße, kurz vor der Kurfürstenstraße.
Ein SA-Mann hielt auf der anderen Straßenseite ein Schild in der Hand: „Juden raus“, habe darauf gestanden. Es war der 10. November 1938, der Morgen nach der Reichspogromnacht, in der die Synagogen gebrannt hatten. Arnold Köppen hatte den Qualm gesehen.
Als morgens bei der jüdischen Familie drei SA-Männer die Wohnung räumten, da machte niemand den Mund auf, berichtet Arnold Köppen. Mit ihm waren andere stehen geblieben. Sie gingen alle, ohne ein Wort zu sagen.
Der 90-Jährige weiß, dass viele bis heute fragen, warum sie nichts getan hätten. Ihn hat zwar niemand direkt gefragt, eine Antwort schreibt er dennoch in seinem Buch: „Wir sahen zu und gingen unserer Wege, denn Protest hätte unsere Verhaftung zur Folge gehabt, Nehmen wir an, ich hätte protestiert und wäre auf die SA-Männer zugegangen.
Machtlos im Angesicht der Gewalt
Man hätte mich in Verwahr genommen, mein Vater wäre arbeitslos geworden, die Stelle bei der Flak in Dilldorf wäre gestrichen worden und die Familie hätte ohne Einkommen auskommen müssen. Das war die Situation eines jeden Beobachters, der machtlos der Gewalt gegenüberstand.“
Wenn die Menschen schlecht über den Führer sprachen, dann sei es Flüster-Propaganda gewesen, sagt Köppen. Immer hätten sie Angst gehabt, abgehört zu werden. Nur als er einmal bei seinem Opa in Altenessen war, da sang er laut mit den anderen Kindern: „Ich will seinen Kopf rollen sehen auf der Kegelbahn.“ Arnold Köppen war etwa zwölf Jahre alt und mag sich nichts dabei gedacht haben. Doch die Nachbarin im Fenster lächelte und drohte ihnen gleichzeitig. Ihr Mann war Sturmführer, sagt Köppen.
Der Opa wurde nicht verhaftet, wie er befürchtet hatte. Verschwunden waren aber eines Tages der Metzgermeister und die Inhaberin eines Textilgeschäftes in Heisingen, wo Familie Köppen lebte. Die beiden Einzelhändler seien Juden gewesen.
„Es gab keinen, der dort nicht war“
Familie Köppen zog später mit neun Kindern nach Überruhr, wo sie eine Dienstwohnung bekamen. „Wir gingen wie alle dem Alltag nach.“ Der Vater arbeitete als Schneidermeister in der Dilldorfer Kaserne. Auch sein Sohn Arnold wurde Scheider. Vor allem seien sie aber katholisch gewesen. Arnold Köppen war Messdiener, Pfadfinder und bei der Hitlerjugend. „Es gab keinen, der dort nicht war“, sagt er.
Haus jüdischer Kultur
In der Schule lernte Arnold Köppen nachmittags bald die Mendelsche Vererbungslehre und musste seinen Ahnenpass mitbringen. Bei der SA-Wehrmannschaft übte er Schießen, beim Reichsarbeiterdienst baute er in Münster die Drainage für den Flughafen. Bekam später sogar das SA-Sportabzeichen. Das tauschte er in Gefangenschaft gegen eine Tafel Schokolade. Von der habe er immer ein Stück abgebrochen und in Wasser aufgelöst, um mehr davon zu haben. „Ein guter Tausch.“
1941 wurde er bei der Wehrmacht eingezogen. Der Einsatz führte ihn nach Afrika. „Beim Angriff der Engländer rollten Panzer auf uns zu“, berichtet Köppen. Um ihn herum starben die Soldaten. Er kam für sechs Jahre ins Lager in den Bergen Kanadas. „Ich hatte Glück, dass ich so an der Judenverfolgung nicht beteiligt war“, sagt Köppen.
Nicht so wie diejenigen, die er am Morgen des 10. Novembers beobachtet hatte. Die Familien aus ihren Wohnungen holten oder zum Einsatz nach Polen geschickt worden waren.
Heute hauptamtlicher Diakon
Köppen erinnert sich an die Verhöre im Lager, bei denen er immer antwortete: „Ich bin Soldat.“ Die „Supernazis“, die hätten von einer seelischen Umwandlung gesprochen. Für ihn undenkbar: „Das wäre ja Theater gewesen.“ Das war eigentlich sein ganzer Fronteinsatz für ihn, der doch hatte Priester werden wollen.
Seit 1972 ist er nun hauptamtlicher Diakon. Die Kristallnacht werde er nie vergessen. Sie war für ihn der Auslöser, der ihn spüren ließ, dass etwas Schreckliches passiert. Durch Zufall sei er Zeuge des Verbrechens geworden, sagt er. Der 17-Jährige radelte damals schnell über die Ruhrallee und Steele zurück nach Hause und erzählte seinen Eltern, was er gesehen hatte.