Essen. Die Kassenärztliche Vereinigung hat die Notfallpraxis in Essen-Borbeck übernommen. Und die Öffnungszeit um 65 Stunden pro Woche gekürzt.

Die Notdienstpraxis in Essen-Borbeck hat neuerdings stark eingeschränkte Öffnungszeiten: Um stolze 65 Stunden pro Woche ist die Öffnungszeit gekürzt worden, seit die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO) die Praxis am Philippusstift im April übernommen hat. Die KV spricht von Neuorganisation und Weiterentwicklung, bei den Hausärzten vor Ort rumort es dagegen: Erneut werde die medizinische Versorgung im Essener Norden verschlechtert.

Ganz allgemein gilt: Wenn die Hausarztpraxen abends, an Wochenenden sowie am Mittwoch- und Freitagnachmittag geschlossen sind, können sich Patienten an Notdienstpraxen im Stadtgebiet wenden. Die KV ist verpflichtet, ein solches Angebot sicherzustellen. Im Nordwesten der Stadt hatte der gemeinnützige Verein Borbecker Ärzte schon in den 1990er selbst eine Notfallpraxis gegründet und diese seither in Eigenregie betrieben.

[In unserem lokalen Newsletter berichten wir jeden Abend aus Essen. Den Essen-Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen.]

„Es war damals eine innovative Idee, die Praxis am Philippusstift anzusiedeln“, sagt der Allgemeinmediziner Dr. Bernd Becker, der in Borbeck praktiziert. Den meisten Patienten konnten die diensthabenden Hausärzte helfen. Wenn doch eine stationäre Behandlung notwendig war, verwies man sie an die Notaufnahme des Krankenhauses auf dem Gelände. Diese Nähe war damals neu, heute siedelt auch die KV ihre Notdienstpraxen gern bei Kliniken an.

Die von den Hausärzten betreute Praxis bestach auch durch ihre großzügigen Öffnungszeiten: Nacht für Nacht war sie bis sieben Uhr morgens geöffnet, mittwochs und freitags startete der Service schon um 13 Uhr, an Wochenenden stand die Tür rund um die Uhr offen. Unter der Notdienst-Nummer 0201-6400 1671 hätten sich oft ältere Menschen oder Seniorenheime gemeldet und sofort eine persönliche Auskunft bekommen, sagt Dr. Becker „Sie schilderten die Beschwerden, und wir konnten rasch klären, ob ein Hausbesuch notwendig ist.“ Wenn ja, rückte der Fahrdienst mit einem der Ärzte aus.

Bewährte Notfallpraxis in Essen-Borbeck wurde abgewickelt

Doch das bewährte System wurde jetzt abgewickelt. Die KVNO in Düsseldorf teilt dazu mit: „Die bislang vom Verein Borbecker Ärzte betriebene Einrichtung wird im Zuge der Weiterentwicklung des ärztlichen Notdienstes in NRW künftig durch die Gesundheitsmanagementgesellschaft mbH neu eingerichtet.“ Diese Tochtergesellschaft der KVNO betreibe gut 80 Notdienstpraxen im Rheinland. Im Zuge der Vereinheitlichung ist die Notdienstpraxis in Borbeck nun nicht mehr bis 7 Uhr morgens, sondern nur noch bis 22 Uhr erreichbar; nachts ist sie geschlossen.

Seit die Notdienstpraxis in Essen-Borbeck von der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) betrieben wird, schließt sie um 22 Uhr. Bis zum Frühjahr war sie die ganze Nacht über und bis sieben Uhr morgens geöffnet.
Seit die Notdienstpraxis in Essen-Borbeck von der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) betrieben wird, schließt sie um 22 Uhr. Bis zum Frühjahr war sie die ganze Nacht über und bis sieben Uhr morgens geöffnet. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Für nächtliche Hausbesuche sei die Notdienstpraxis nicht mehr zuständig, erklärt die KVNO. Vielmehr stehe „speziell für die Versorgung bettlägeriger Patienten“ nun ein eigener ärztlicher Notdienst bereit, der rund um die Uhr erreichbar sei – über kostenlose Arztrufnummer 116 117. Sofern es die Gesundheitsprobleme zuließen, organisiere dieser Notdienst für den nächsten Tag einen Termin bei einem niedergelassenen Arzt. „Wenn aus medizinischer Sicht erforderlich, erhalten die Anrufer einen Hausbesuch.“

Dafür benötigten sie jedoch große Geduld, fürchtet Bernd Becker. Wer die zentrale Nummer 116 117 anrufe, lande regelmäßig in der Warteschleife, auch mal für eine halbe Stunde oder länger. Ein alter Mensch mit akuten Schmerzen, gebe da womöglich vorher auf. Und der Fahrdienst, den wie bisher die Hausärzte übernehmen, stehe zwar weiter 24 Stunden bereit: „Allerdings decken wir jetzt nicht nur den Raum Borbeck ab, sondern den gesamten Essener Norden.“ Denn: Mit der Schließung des Marienhospitals in Altenessen sei auch der dortige Fahrdienst aufgelöst worden. Das Angebot sei also keineswegs weiterentwickelt, sondern ausgedünnt worden.

Kündigungen für das Personal der Notfallpraxis

Der Allgemeinmediziner Dr. Bernd Becker versteht nicht, warum die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO) die Borbecker Notfallpraxis unbedingt vereinnahmen wollte. Jahrzehntelang habe der Verein Borbecker Ärzte die Praxis zuverlässig betreut – gleichsam als Dienstleister der KV. Für das nun deutlich abgespeckte Angebot aus der Hand der KVNO müssten die niedergelassenen Ärzte übrigens genauso hohe Beiträge zahlen wie bisher. Die KVNO erklärt, noch seien keine Beiträge erhoben worden und diese setzten sich „ausschließlich aus Kosten für den Betrieb der Notdienstpraxis zusammen“.

Becker kritisiert auch, wie ruppig der Übergang vollzogen worden sei: „Mit dem Neustart zum 1. April wurden alle 450-Euro-Kräfte und der Fahrer entlassen.“ Zwar konnten sie sich erneut auf ihre Stellen bewerben, doch Mitarbeiterinnen ohne abgeschlossene Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten (MFA) blieben draußen: „Erfahrene Kräfte, die teils jahrzehntelang nachts und am Wochenende unsere Praxis am Laufen gehalten haben, mussten ohne Dankeschön gehen.“ Dabei hätte die KV ihnen eine Sonderprüfung anbieten und so ihre Rückkehr in den Job ebnen können, sagt Becker. Die KV erklärt dazu, es handle sich nicht um eine Übernahme der Praxis, sondern um eine „Neueinrichtung“. Demnach habe zuvor kein Arbeitsverhältnis mit dem Team bestanden. Die KV habe „einheitliche Qualitätsstandards“ und beschäftige nur MFA bzw. Krankenschwestern/-pfleger. Eine Sonderprüfung liege nicht in ihrer Zuständigkeit, sondern bei der Ärztekammer Nordrhein. Von jetzt neun Beschäftigten hätten übrigens sechs schon in der Vorgänger-Praxis gearbeitet.

Auch ärztliches Personal habe die KVNO vergrault, sagt Becker: Denn viele der mehr als 60 niedergelassenen Ärzte in Borbeck leisten ihre Notdienste nicht selbst, sondern lassen sich von erfahrenen, teils pensionierten Ärzten vertreten. Einige dieser Vertreter kommen aus anderen Städten, etwa aus Köln: „Für sie lohnt sich die Anfahrt für die auf drei Stunden verkürzten Einsätze nicht mehr.“

Die KVNO hält dagegen, dass nachts ohnehin nur „vereinzelt“ Patienten in die Notdienstpraxen kämen. „Nach unserer Erfahrung betreffen nächtliche Notfälle eher die Ambulanzen der Kliniken bzw. sind Fälle für den stationären Bereich.“ Und: Bei „extremen gesundheitlichen Beschwerden“ solle man lieber gleich unter 112 den Rettungsdienst rufen. Für schwere Notfälle gelte das selbstverständlich, bestätigt Becker. Nun würden jedoch auch Patienten mit weniger dramatischen Beschwerden an die Leitstelle verwiesen oder in Notaufnahmen der Krankenhäuser landen.

Arzt kritisiert: Gesundheitslandschaft im Essener Norden wird ausgedünnt

Das könnte am Ende dazu führen, dass die Notaufnahmen durch die minder schweren Fälle so überlastet würden, dass sie sich bei der Leitstelle von der Versorgung echter Notfälle abmelden müssten. Da die KV die neuen Öffnungszeiten schlecht kommuniziert habe, seien schon die ersten Patienten nachts vor der verschlossenen Notdienstpraxis gelandet – und in die Notaufnahme gegangen.

Geht es nach der Kassenärztlichen Vereinigung, soll sich dieser Weg in Zukunft verkürzen: Die Notdienstpraxis solle im Winter gleich in die Notaufnahme der Klinik integriert werden. In solchen vom Gesetzgeber geforderten „Portalpraxen“ besetzen KV- und Klinik-Team gemeinsam den Empfang und steuern so, ob Patienten eher ein Fall für die stationäre oder ambulante Behandlung sind. „Das wäre medizinisch sinnvoll, weil man sich die Patienten dann leichter übergeben kann“, räumt Becker ein.

Das Modell könne aber nur dann funktionieren, wenn die Notdienstpraxis wieder nachts geöffnet werde und unter einer eigenen Telefonnummer erreichbar wäre. Denn sonst lande ein Teil der Patienten in der Warteschleife der 116 117 – und der andere doch in der Notaufnahme, die eigentlich entlastet werden solle. Beckers Fazit: Dass hier ein weiteres Angebot in der ausgedünnten Gesundheitslandschaft des Essener Nordens zusammengestrichen werde, sei nicht hinnehmbar.