Essen. Eine Ärztin schickt einen Essener (78) mit Schmerzmittel heim. Kurz darauf wird klar: Er hat eine Hirnblutung. Gerettet wird er dank der Tochter.

Zwei Monate sind seither vergangen und Karin S. ist dankbar, dass ihr Vater die dramatische Nacht überlebt hat. Doch dass der 78-Jährige mit ein paar Schmerztabletten aus der Notdienstpraxis heimgeschickt wurde, kann seine Tochter nicht vergessen: Kaum zu Hause musste sie den Rettungswagen holen. Wie sich herausstellte, hatte der Senior eine Hirnblutung – und keineswegs nur Kopfweh.

Die Tochter vermutet gleich einen Schlaganfall

Karin S. hatte sich schon länger Sorgen um ihren Vater Gerhard M. gemacht, als sie am Montag, 12. April, abends mit ihm und ihrer Mutter zum Alfried-Krupp-Krankenhaus in Rüttenscheid fuhr: „Sein Gesicht war grau, der Gang war wacklig, er litt unter Gedächtnisverlust.“ Das Krupp hatte sie gewählt, weil er dort nach einem Herzinfarkt gelegen hatte und am Magen operiert worden war. Sie vertraute dem Haus und steuerte die Notaufnahme an.

Gegen 21 Uhr traf die Familie ein und Karin S. schilderte dem Krankenpfleger an der Pforte die Symptome ihres Vaters, wies auf seine Vorerkrankungen hin, die man im Krankenhaus-Computer finden könne und äußerte den Verdacht, „dass er einen Schlaganfall hat“. Sie war sicher, man würde den 78-Jährigen sofort stationär aufnehmen. Doch der Pfleger verwies ihren Vater an die Notdienstpraxis, die sich zwar unter dem Dach des Krankenhauses befindet, aber von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) betrieben wird: Niedergelassene Ärzte machen hier wechselweise Dienst.

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Karin S. fühlte sich nicht ernst genommen und sagte das auch dem Pfleger. Dazu teilt das Krupp-Krankenhaus nun mit, am Empfang der Zentralen Notaufnahme sei an dem Abend ein examinierter Rettungssanitäter und Pfleger für die Ersteinschätzung zuständig gewesen. „Ein Mitarbeiter, der in seinem Berufsalltag geübt ist, Notfälle und Symptome von Notfällen zu erkennen.“ Solche Symptome habe es nicht gegeben: Gerhard M. habe weder Fieber noch erhöhte Temperatur gehabt.

Der Pfleger sieht keine Anzeichen für einen Notfall

Wenn der Pfleger Karin S. unterbrochen habe, dann nur, um mit dem Patienten sprechen zu können, um so mögliche Auffälligkeiten festzustellen, doch Gerhard M. habe „ganz normal“ gesprochen: Er habe seit einigen Tagen Kopfschmerzen. „Die Frage, ob er schon Schmerzmittel genommen hat, verneinte er.“

Daraufhin habe der Pfleger Herrn M. zur Notdienstpraxis der KV gebracht. Karin S. durfte den Vater aus Gründen des Corona-Schutzes nicht zur Untersuchung begleiten. Da der 78-Jährige seine ernsten Beschwerden schon zuvor als Kopfweh abgetan hatte, schrieb sie einen Zettel mit allen Symptomen und bat den Pfleger, er möge die Notizen an die Ärztin weitergeben. Dazu sagt der Pfleger jetzt, er habe keinen Zettel erhalten. Vielmehr habe Karin S. ihn gebeten, „dem Arzt auszurichten, dass der Vater schon länger starke Kopfschmerzen hat und er nicht richtig laufen und sprechen würde“. Das habe er weitergegeben.

Das vermeintliche Kopfweh entpuppt sich als Hirnblutung

Ihr Vater sei jedoch nach wenigen Minuten aus der Praxis zurückgekehrt: Die Ärztin habe keinen Zettel erhalten, ihn flüchtig untersucht, nicht mal Blutdruck gemessen, und ihn mit einem Rezept für Ibuprofen 600 heimgeschickt. Karin S. fährt mit den Eltern nach Hause, doch dort ruft sie sofort den Rettungswagen. Der bringt Gerhard M. ins Philippusstift in Borbeck. „Die haben in der Neurologie eine Hirnblutung festgestellt und veranlasst, dass mein Vater sofort ins Uniklinikum verlegt wurde.“ Da kommt er um 1 Uhr nachts auf die Intensivstation.

Gerhard M. wird operiert, liegt drei Wochen in der Uniklinik. Zu Hause gibt es Nachblutungen: Erst im Juni steht fest, dass er keine zweite OP braucht. Karin S. bangt weiter um ihren Vater und mag die Vorkommnisse von April nicht auf sich beruhen lassen. Doch es ist nicht leicht, die Nacht zu rekonstruieren: Während sie betont, dass sie dem Pfleger den Schlaganfallsverdacht geschildert habe, erinnert der sich anders. Das sei aber gar nicht ausschlaggebend, erklärt das Krankenhaus: „Die Entscheidung darüber, ob es sich um eine lebensbedrohliche Erkrankung handelt, wird in keinem Fall von den Mitarbeitern am Empfang getroffen. Dies erfolgt immer durch einen Arzt.“

Die Entscheidung über eine Aufnahme ins Krankenhaus trifft immer ein Arzt

Und: Jeder Patient werde von einem Arzt der Notaufnahme untersucht oder von einem Kollegen der KV-Praxis. Dabei gelte: „Die Verdachtsdiagnose Schlaganfall durch den KV-Arzt hätte in jedem Fall eine Aufnahme ins Krankenhaus zur Folge gehabt.“

Weil Gerhard M. in der KV-Praxis untersucht wurde, mag das Krankenhaus verständlicherweise nicht beurteilen, wieso die einen akuten Notfall heimgeschickt hat. Doch auch die Kassenärztliche Vereinigung als Betreiber schweigt: Da eine niedergelassene Ärztin Praxis-Dienst hatte, müsse die Ärztekammer Nordrhein Auskünfte geben.

Die Sprecherin der Ärztekammer erklärt wiederum, sie könne zu dem Fall nichts sagen, bevor sich die Familie nicht offiziell beschwert habe. Dass es Karin S. erstmal nicht um eine Beschwerde geht, sondern um Information – egal. Die Familie solle sich an Patientenberatung oder Gutachterkommission wenden.

Kein Krankenhaus mag die Ärztin kritisieren – nur hinter vorgehaltener Hand gibt’s Kritik

Schließlich wählt Karin S. den zweiten Weg und wir fragen die Sprecherin erneut. Nun mailt diese: „Wir dürfen grundsätzlich keine Stellungnahmen zu einem Gutachterverfahren abgeben. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit beträgt je nach Fall derzeit etwa bis zu 12 Monaten.“

Die Contilia als Trägerin des Philippusstiftes, das die Hirnblutung feststellte, äußert sich zur Diagnose der Ärztin nicht. Es entspreche nicht dem „Selbstverständnis“ des Hauses Behandlungen zu bewerten, die andernorts begonnen hätten. Aus ähnlichem Grund schweigt auch die Uniklinik, die Gerhard M. erfolgreich behandelt hat. Offen mag niemand die erste Diagnose kritisieren oder sagen, was hätte geschehen können, wenn Karin S. nicht noch den Rettungswagen geholt hätte. Bleibt nur der hinter vorgehaltener Ärztehand geäußerte Satz: „Wenn man ihn gründlicher untersucht hätte, hätte man feststellen müssen, dass da mehr ist.“

Ein Jahr lang müssen Vater und Tochter auf ein Gutachten warten

Der Fall wirft die Frage auf, ob die an die Krankenhäuser angedockten Notdienstpraxen so besetzt sind, dass akute Notfälle sicher erkannt werden. Das Krupp-Krankenhaus rät Karin S. in einem Brief jedenfalls, bei Verdacht auf Schlaganfall lieber immer die 112 zu wählen: „Nur so kann sichergestellt werden, dass Patienten als Notfallpatienten unmittelbar im Krankenhaus aufgenommen und behandelt werden können.“

Wie die Ärztin im April zu ihrer Diagnose kam, will die Ärztekammer nun ermitteln: Die Gutachterkommission werde Sachverständigengutachten dazu einholen. Am Ende des Verfahrens, so die Kammer, „erhalten Patient und Arzt ein Gutachten“. Darauf müssen Karin S. und ihr Vater nun ein Jahr warten.